In Libyen stürmten Anfang Juni vergangenen Jahres Hunderte Menschen das Parlamentsgebäude in der Hafenstadt Tobruk, um aufgrund der sich verschlechternden Lebensumstände die Abschaffung des politischen Systems zu fordern. Im Iran kommt es weiterhin zu Protesten und Streiks, die sich gegen die Regierung richten, da das Regierungssystem mit politischen wie auch wirtschaftlichen Maßnahmen es zu einer grassierenden Inflation hat kommen lassen. Auch im Sudan ebben die Proteste gegen die Militärherrschaft, trotz etlicher Toter, nicht ab. Im Libanon gehen die regelmäßigen Proteste angesichts des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Tatsache, dass bislang niemand für die Explosion am Beiruter Hafen im Jahr 2020 zur Verantwortung gezogen wurde, weiter. Ähnliche Situationen lassen sich im Jemen, im Irak und in Algerien aufzeigen. Indessen führt die ökonomische Misere Ägyptens dazu, dass die Unzufriedenheit im Lande ihren Höhenpunkt erreicht, während das Militärregime mit harter Hand versucht, die Stabilität aufrechtzuerhalten.
Nun ist es über ein Jahrzehnt her, dass der Arabische Frühling die Bürger aus der Region dazu bewegte auf die Straßen zu gehen, um eine Veränderung herbeizuführen. Dabei hat sich die Lage im gesamten Nahen Osten seither nur weitaus verschlimmert: Massenproteste, bewaffnete Aufstände und Streiks breiten sich in der gesamten Region aus. Nach einem Jahrzehnt haben sich die Probleme in dieser Region weitgehend verschlechtert, wobei die Ursachen dafür aller Voraussicht nach eine weitere Serie von Aufständen zur Folge haben werden.
Das größte Problem im Nahen Osten ist auf die lang bekannte Tatsache zurückzuführen, dass die Politik, die aufeinanderfolgenden Regierungen, die Regime als auch die Politiker das Volk tatsächlich nie vertreten haben. Dies ist auch der Grund, warum es sich bei den meisten Regimen in der Region entweder um Polizeistaaten, Autokratien oder Monarchien handelt, die das Herrschaftsmonopol innehaben: Diese sind nämlich eher daran interessiert, ihre Macht zu sichern und den Status quo zu bewahren. Im Jahr 2020 wurden in Ägypten, im Iran und im Irak anlässlich der COVID-19-Pandemie Ausgangssperren verordnet, um regimekritische Proteste zu unterdrücken. An Orten, an denen Wahlen abgehalten werden, wie im Irak und im Libanon, bestimmen Korruption und politische Streitigkeiten den Alltag in der Politik, indem die dortigen Systeme eine Fraktion gegen eine andere ausspielen. Ein Jahrzehnt nach dem Arabischen Frühling gilt Tunesien hingegen, der Liebling des Westens, als das einzige Land, das nach den Aufständen einen demokratischen Wandel durchlebt hat. Seitdem hat das Land zwölf verschiedene Regierungen erlebt, die allesamt gescheitert sind. Sie alle waren der Vielzahl an wirtschaftlichen Herausforderungen nicht gewachsen. Die politische Polarisierung und die Tatsache, dass die alte Garde wieder an der Macht ist, lässt schlussendlich erkennen, dass sich in der Geburtsstätte des Arabischen Frühlings tatsächlich wenig geändert hat.
Das wirtschaftliche Versagen, die Armut, der Autoritarismus und die Unterdrückung der Massen waren alles Faktoren, die viele Menschen vor einem Jahrzehnt dazu animierten, auf die Straßen zu gehen. Heute sind all diese Probleme nach wie vor präsent und in vielen Fällen sogar noch viel schlimmer als zuvor. So haben sich in Ägypten Armut, Arbeitslosigkeit und Vermögensungleichheit verschlimmert, weil die Militärjunta die Wirtschaft in den Ruin getrieben hat. Selbst in den Ländern, in denen es vor einem Jahrzehnt noch keine Aufstände gab, kam es nun zu wiederkehrenden Protesten, da es diesen Ländern bislang nicht gelungen ist, der Bevölkerung Wohlstand zu bringen. So gab es im Jahr 2019 in Ländern wie Algerien, im Sudan, im Irak, im Libanon und im Iran immer wieder Unruhen. Hätte es vor dem Hintergrund der Pandemie keine Ausgangssperren gegeben, wäre es mit Sicherheit zu weitaus mehr Protesten gekommen. Seit den Ausgangssperren gab es in diesen Ländern weder eine wirtschaftliche Umstrukturierung noch ein Umdenken seitens der Militärmachthaber und Monarchen. Stattdessen halten sie nach wie vor mit eiserner Hand an ihrer Macht fest, während sie bei der Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse ihres Volkes versagen.
Indes setzt Sisi in Ägypten den Bau von Infrastrukturen und neuen Städten fort und verschuldet das Land, während die Bevölkerung mitansehen muss, wie die Inflation steigt und die Beschäftigungsmöglichkeiten schwinden. Gleichzeitig weigert sich das Militär, Maßnahmen zu ergreifen, um den Massen zu helfen; Dies würde nämlich voraussetzen, dass sie bereit wären, die Kontrolle über die Wirtschaft aufzugeben. Schließlich wird davon ausgegangen, dass das ägyptische Militär über mehr als die Hälfte des ägyptischen BIP verfügt. Zwischenzeitig beschreibt die Weltbank die katastrophale Lage im Libanon wie folgt: „Das Ausmaß und die Tragweite der vorsätzlich herbeigeführten Wirtschaftskrise im Libanon lassen die wesentlichen Pfeiler der libanesischen Volkswirtschaft (in der Nachbürgerkriegszeit) einbrechen. Dies offenbart sich durch den Zusammenbruch der grundlegendsten öffentlichen Dienstleistungen, die anhaltende und lähmende Uneinigkeit der Innenpolitik und die massive Abwanderung der Fachkräfte. Unterdessen tragen die Armen und die Mittelschicht – die mit diesem Modell von vornherein nicht gut bedient waren – die Hauptlast der Krise.“
Die ausländische Einflussnahme auf die Region hat ebenfalls eine wesentliche Rolle gespielt. Die Struktur des Nahen Ostens wurde nämlich von europäischen Kolonialisten geschaffen, wobei die USA mittlerweile einen Großteil des europäischen Einflusses ersetzt haben und der Region ihr Recht auf Unabhängigkeit verweigern. Die Einmischung vonseiten der USA sowie zahlreicher anderer Nationen hat zu Bürgerkriegen geführt, da die jeweiligen Mächte – getrieben durch ihre eigenen Interessen –unterschiedliche Gruppierungen unterstützten. So sind beispielsweise Libyen und der Jemen im Chaos versunken, als Großbritannien und die USA Stellvertreterkriege initiierten, mit dem Ziel, die Kontrolle über diese Länder für sich zu entscheiden. Die in Syrien beteiligten Länder haben sich öffentlich zwar für den Rücktritt Bashar al-Assads ausgesprochen, aber in Wirklichkeit dem entgegengehandelt. So haben die Länder, die sich einmischten, die Widerstandsbewegung ausgebremst und das Land in einen Bürgerkrieg verwickelt, der sich zwischen den Vertretern regionaler und internationaler Mächte abspielte. Viele in diesen Ländern wandten sich an das Ausland, in der Hoffnung das Kräfteverhältnis gegenüber ihren Herrschern zu ihren Gunsten beeinflussen zu können. Dieser „Hilferuf“ wurde von ausländischen Mächten allerdings ausgenutzt, um zu intervenieren und sicherzustellen, dass kein Wandel stattfindet. Als vor über zwei Jahren Massenproteste im Sudan begannen, sorgten die USA dafür, dass das Militär auch weiterhin die Zügel in der Hand behält. Währenddessen unterstützten Großbritannien und Frankreich das Militär in Algerien, das, seit dem Rücktritt des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika, der Forderung des Volkes nach einer umfassenden Reform nicht nachkam.
Der Verlauf der demografischen Entwicklung im Nahen Osten lässt keinen stabilen Verlauf erwarten. Die Zukunft der dortigen Regime ist ungewiss. Obwohl die Fertilitätsrate in der Region abnimmt, ist derzeitig ein Anstieg des Bevölkerungswachstums zu verzeichnen. Nur wenige Orte auf der Welt werden den zahlreichen Herausforderungen, die durch die wachsende Anzahl von Menschen entstehen, künftig noch standhalten können. Diese wachsende Bevölkerung muss schließlich mit Wasser versorgt und untergebracht werden. Mehr Menschen bedeuten mehr Nachfrage nach fortschrittlicher Infrastruktur und Arbeitsmärkten. Der Wettbewerb um Wohnräume und Arbeitsplätze auf der einen Seite, insbesondere im öffentlichen Dienst, und die schlechte Qualität der öffentlichen Dienstleistungen sowie deren unzureichende Bereitstellung auf der anderen Seite sind primäre Faktoren für die tiefe Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen System, die viele der Gesellschaften im Nahen Osten prägt. Eben dieser demografische Druck und die Fähigkeit seitens der Regierungen diesen abzumildern, werden eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, den künftigen Kurs der Region bestimmen zu wollen. Ägypten, eines der größten Länder dieser Region, stellt seine Politiker hierbei vor ein höchst interessantes Dilemma: Die Population des Landes liegt derzeitig bei über 100 Millionen und wird bis 2050 voraussichtlich bei etwa 160 Millionen liegen! Das bedeutet, dass fortan jedes Jahr über eine Million Jugendliche das 16. Lebensjahr erreichen und sich auf die Suche nach einer Arbeitsstelle begeben werden, die es nicht gibt. Diese wachsende Population muss untergebracht, ausgebildet und versorgt werden, ein Sachverhalt, der einer sorgfältigen Planung bedarf. Das ägyptische Regime scheint von solchen Herausforderungen jedoch nichts zu wissen. Stattdessen scheint die Sisi-Administration nur damit beschäftigt zu sein, die Kontrolle zu wahren. Algerien und der Sudan stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Die aktuellen Proteste in all diesen Gebieten sind also sehr wahrscheinlich nur der Anfang. Die Situation in den genannten Ländern wird sich zunehmend verschlechtern, wenn die Regenten in der islamischen Welt die Lösung dieser Probleme weiterhin aufschieben. Während des Arabischen Frühlings versuchten die Menschen, sich von den Ketten zu befreien, die ihnen vor langer Zeit angelegt wurden. Die Menschen hatten die Angst, die sie in Schach hielt, für einen kurzen Moment überwunden, was dazu führte, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. Die Herrscher dieser Regionen haben bewiesen, dass sie ebenso inkompetent wie brutal sind, wobei sie annehmen, dass letzteres ein Garant dafür sei, dass sie ihre Macht behalten. Vor einem Jahrzehnt erschütterte ein Beben die Region und jedem Erdbeben folgen bekanntlich weitere Erschütterungen. Während alle Augen auf Europa und den Krieg zwischen Russland und der Ukraine gerichtet und die USA auf Chinas wirtschaftlichen Aufstieg konzentriert sind, gilt es insbesondere die Geschehnisse im Nahen Osten mitzuverfolgen. Denn in Anbetracht der Umstände handelt es sich bei der Frage bezüglich eines erneuten Arabischen Frühlings nicht um ein „ob“ sondern vielmehr um ein „wann“. Schließlich sind die Umstände, die der Region abermals anhaften und die die Massen damals auf die Straßen trieb, um einen Wandel zu fordern, heute deutlich schlimmer als vor einem Jahrzehnt. Die entscheidende Frage ist nur, was dieses Mal das Fass zum Überlaufen bringen wird.
Quelle: https://thegeopolity.com