Die Gleichstellung von Mann und Frau gehört zu jenen Aspekten, die sich der Westen auf die Fahnen schrieb und als Qualitätsmerkmal einer fortschrittlichen Gesellschaft deklarierte. Weltweit müssen sich Staaten aber auch Kulturen und Weltanschauungen daran messen lassen, ob sie sich diesem Ideal verschrieben haben und inwieweit sie sich für dessen Realisierung einsetzen. Deutschland gehört hierbei zu den Vorreitern, hat es doch das Konzept der Gleichberechtigung im Grundgesetz verankert und ihm somit Verfassungsrang verliehen.
Doch seitdem postmoderne Denkansätze den soziopolitischen Diskurs immer stärker bestimmen und insbesondere die Geschlechterfrage auf den Prüfstand stellen, sieht die Zukunft für die Gleichberechtigung der Geschlechter eher düster aus. Denn wie lässt sich die Gleichstellung von Männern und Frauen in praxi durchsetzen, wenn das Geschlecht als soziale Ordnungskategorie in einer Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich und die Geschlechtszugehörigkeit inzwischen zu einer Frage des persönlichen Geschmacks und damit frei wählbar geworden ist? Wie soll der Kampf um Gleichberechtigung in Zukunft funktionieren, wenn dieselbe Gesellschaft zunehmend auf die Auflösung der binären Geschlechterordnung hinarbeitet, um stattdessen einer unendlichen Vielfalt queerer Identitäten den Weg zu ebnen? Das weite Teile der hiesigen Gesellschaft sich dazu hinreißen lassen, das Geschlecht in ein biologisches und soziales zu trennen, führt in letzter Konsequenz dazu, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter sich im Grunde ihr eigenes Grab schaufelt. Denn wo kein klar identifizierbares Geschlecht mehr existiert, kann auch nicht dessen Gleichstellung eingefordert werden. Paradoxerweise leisteten dabei gerade die Frauenbewegungen selbst die gedankliche Vorarbeit – sowohl für die Beseitigung sämtlicher Gegensätze zwischen den Geschlechtern als auch für die konstruierte Unterscheidung zwischen einem biologischen und sozialen Geschlecht.
Dieses Beispiel veranschaulicht, dass selbst eine politische Leitidee wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die doch in der westlichen Welt eine zentrale Rolle einnimmt, vor dem zwanghaften Drang nach individueller Freiheit nicht verschont bleibt. Dabei reißt dieses Menschenbild sämtliche für den Fortbestand einer Gesellschaft notwendigen Grenzen ein, wie der folgende Fall einer 16-jährigen Gymnasiastin aus der Schweiz zeigt. Flynn Tredwin ist mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt gekommen. Im Alter von 14 Jahren bemerkte sie jedoch, dass ihre Interessen im Vergleich zu allen anderen Mädchen aus ihrer Klasse ganz andere waren. Das bevorstehende Fest zum Abschluss ihrer Sekundarschulzeit bezeichnet sie als ein Schlüsselmoment: Denn für Flynn stand in diesem Moment fest, dass sie zur Abschlussfeier einen Anzug tragen möchte. Obwohl sie sich damals noch als Mädchen empfand, begann sie das Internet zu durchforsten, um herauszufinden, weshalb sie sich so anders fühlte als ihre damaligen Freundinnen. Schließlich entdeckte sie die Bezeichnung genderfluid und fühlte sich von nun an verstanden und zugehörig. Heute möchte sie sich nicht mehr auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen lassen: Das bedeutet, dass man ständig zwischen den Geschlechtern wechselt. Ob ich mich eher als Frau, Mann, als non-binär oder etwas dazwischen fühle, ist von Tag zu Tag anders, so Flynn. Trotz vieler Ressentiments, die sie in der Öffentlichkeit nach wie vor zu spüren bekommt, fühlt sie sich mit ihrer genderfluiden Identität gerade in ihrer Klasse akzeptiert – sowohl von ihren Mitschülern als auch vom Lehrpersonal. Die Chefärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Dagmar Pauli, stellt fest, dass das Phänomen der gender fluidity vor allem in liberalen Ländern zunehme. Doch Sorge braucht sich ihrer Meinung nach niemand zu machen. Gerade Eltern und dem engeren Umfeld rät sie, in einem solchen Fall vor allem neugierig zu sein. Statt aus Verunsicherung mit Ablehnung zu reagieren, sollten Eltern für alle Entwicklungen offen sein und möglichst die Geschlechtsvarianz in Vorlieben und Verhalten normalisieren: Diese Vielfalt bereichert die Welt, so Pauli.
Dieser tragische Fall, garniert mit den Erläuterungen einer Forscherin, steht exemplarisch für den rücksichtslosen Versuch, jede individualistische Verwirrung inzwischen zu einer neuen gesellschaftlichen Norm umzudeuten. Das besonders zersetzende an diesem Phänomen ist nicht einfach der Wunsch eines jungen Menschen, sich für das andere Geschlecht zu entscheiden. Als fließendes Geschlecht steht gender fluidity vielmehr für den dynamischen Wechsel von männlichen, weiblichen und geschlechtsneutralen Empfindungen. Diese folgen keiner vorgegebenen Struktur, sind nicht permanent ausgeprägt und zudem unabhängig von zeitlichen Phasen. Mit anderen Worten sollen dieser irrsinnigen Vorstellung zufolge das Geschlecht wie auch die Sexualität stets und ständig neuverhandelt und keinesfalls dauerhaft festgelegt werden. Selbst der Regenbogen als Wahrzeichen der Homosexuellen würde nach dieser Deutung die Farben zu strikt trennen. Was gegenwärtig stattfindet, ist eine verheerende soziale Entwicklung, die nicht einfach nur die binäre Geschlechterordnung in Zweifel zieht. Mehr noch, steht damit die Familie als elementarer Baustein einer jeden Gesellschaft und infolgedessen die Erhaltung der menschlichen Art als solches auf dem Spiel.
Dass ein Großteil der liberal-säkularen Gesellschaft diesen Prozess, der inzwischen eine beunruhigende Eigendynamik entfaltet, offensichtlich in Kauf nimmt, ist bezeichnend für ein Menschen- und Gesellschaftsbild, in dem der individuellen Freiheit keinerlei Schranken gesetzt sind. In einer derartigen Gesellschaft, die vom postmodernen Denken immer stärker dominiert wird, findet derzeit eine verantwortungslose Dekonstruktion von Normen und Werten statt; traditionelle Maßstäbe verlieren ihre Gültigkeit und werden schlicht über den Haufen geworfen, nur um das Individuum nicht in seiner eigenen Identitätskonstruktion zu behindern. Das Ergebnis ist die völlige Entgrenzung des Menschen, der selbst liberale Gewissheiten auf den Kopf stellt, um sich auf diesen gedanklichen Trümmern seinen ganz persönlichen Lebensentwurf aus einer Vielzahl an zum Teil sich widersprechenden Sinnangeboten zusammenzubasteln. Selbst der Stimme der Vernunft scheint man nicht mehr über den Weg zu trauen, wenn der hiesigen Gesellschaft zwei Geschlechter offensichtlich nicht genug sind und sie keine zuverlässige Aussage mehr über ihre tatsächliche Anzahl treffen kann.
Vor diesem Hintergrund braucht es niemanden zu wundern, warum junge Menschen wie Flynn Tredwin derartige Lebensentscheidungen treffen können, die Bar jeder Vernunft sind. Dennoch knüpft das postmoderne Denken nahtlos an die europäische Geistesgeschichte an. Mit der Befreiung des Individuums von allen externen Autoritäten traten die Philosophen und Denker der Aufklärung einen Prozess in Gang, der bis heute andauert und die westlichen Gesellschaften in immer tiefere Abgründe wirft. Mit diesem Menschenbild wird das Individuum aufgerufen, sich selbst zu transzendieren und als logische Konsequenz dessen, setzt sich dieses Individuum über alle Strukturen hinweg, die für die Aufrechterhaltung und den Fortbestand eines sozialen Gemeinwesens notwendig sind.
Der muslimischen Gemeinschaft im Westen muss gerade mit Blick auf die Erziehung ihrer Kinder die besondere Gefahr dieser soziokulturellen Fehlentwicklungen bewusstwerden. Das Ziel ist nämlich nicht lediglich Toleranz für diverse Geschlechteridentitäten einzufordern. Vielmehr wird nichts Geringeres als die vollständige Gleichstellung vor dem Gesetz sowie die volle Anerkennung der Legitimität aller konstruierten sexueller Identitäten durch die breite Gesellschaft verlangt. Der neutrale Staat leistet hierbei bereits Pionierarbeit, indem er mittels seiner Institutionen derartige Neigungen fördert und dies von der Gesellschaft ebenso erwartet. Gender fluidity soll unter diesen Rahmenbedingungen keine kritikwürdige Abweichung von der Norm mehr darstellen – sondern ein gleichwertig neben der traditionellen Familie existierender und legitimer Lebensentwurf.