Westliche Konzeptionen Die Erfindung des souveränen Staates

Die Entstehungsgeschichte des modernen Staates kann auf verschiedene Weise erzählt werden.

Die Entstehungsgeschichte des modernen Staates kann auf verschiedene Weise erzählt werden. Wenn wir jedoch versuchen, seine Ursprünge genealogisch zu rekonstruieren, sehen wir uns mit dem offensichtlichsten Problem konfrontiert. Dieses besteht darin, dass wir oft jene Sprache benutzen, die uns die Moderne vorgibt, wodurch jede Art von nachhaltiger Kritik grundsätzlich verhindert wird. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie wir über grundlegende Konzepte der Moderne wie beispielsweise die Souveränität sprechen. Anstatt nur die Frage zu stellen, wer die Souveränität innehat, sollten wir das Konzept an sich kritisch hinterfragen. Wir sollten es in seinen Ursprüngen untersuchen, in seiner Entstehungsgeschichte, und ebenso über die Möglichkeit einer Politik ohne Souveränität nachdenken. Somit wären wir in der Lage, über die Auswirkungen zu reflektieren, die ein solcher (befreiender) Ansatz auf Politik und Gesellschaft haben würde. Wenn man nämlich die Geschichte der modernen Souveränität erzählt, kommt ans Licht, dass die Souveränität das Produkt einer eindeutig eurozentrischen metaphysischen Vorstellung ist. Die Frage, die sich uns unweigerlich stellt, lautet daher: Was sind die metaphysischen Annahmen, die das Konzept der Souveränität überhaupt erst denkbar machen? Daraus ergibt sich sodann die Frage: Ist eine Politik ohne Souveränität denkbar?

Diese kritische Auseinandersetzung ist unbedingt erforderlich und sie muss sich dabei der politischen Theologie bedienen. Wie Adam Kotsko gezeigt hat, besteht die unmittelbarste Aufgabe jeder politischen Theologie darin, jene Quellen kritisch zu hinterfragen, aus denen eine politische Autorität Gehorsam fordert. Die politische Theologie ist insofern nützlich, als dass sie die Genealogie von Narrativen kritisch untersucht. Dabei ist es wichtig, einen alternativen Ausgangspunkt zu erwägen und zu verfolgen. Immerhin behauten die vorherrschenden Narrative über die Legitimität der Moderne, ihr totalitäres und fetischisiertes Vorgehen sei nichts anderes als eine Instanz der Selbstbehauptung und der Souveränität der Vernunft in einer angeblich post-metaphysischen Welt. Diese problematische Behauptung führt jedoch unweigerlich zur Frage: wenn ein solches Subjekt (z. B. die Vernunft) bereits existierte, warum musste es dann überhaupt erst begründet und legitimiert werden? Weil es, wie Marc Lombardo erklärt, von vornherein nicht vorhanden war und erst erfunden werden musste. Wir brauchen also ein alternatives Narrativ, um zu verstehen, wie der Souverän überhaupt erst gegründet und legitimiert wurde.

Joseph Albernaz und Kirill Chepurin liefern einen geeigneten Ausgangspunkt, indem sie argumentieren, dass die Moderne mehr ist als nur ein Projekt der menschlichen Selbstbehauptung oder der Souveränität der Vernunft. In ihrem Buch „The Sovereignty of the World: Towards a Political Theology of Modernity“ (Die Souveränität der Welt: Auf dem Weg zu einer politischen Theologie der Moderne) kommen sie zu einer neuen Erkenntnis. Darin argumentieren sie, dass die Autonomie der menschlichen Selbstbehauptung tatsächlich nur möglich ist, weil die Moderne „die Souveränität Gottes mit der Souveränität der Welt neu besetzt“. Somit wurde die Transzendenz von der Moderne nicht abgeschafft, sondern lediglich auf die Welt übertragen. Das Hauptmerkmal der Moderne bestand somit darin, die Welt mit der „Totalität der Möglichkeiten“ gleichzusetzen. Darüber hinaus erklären sie, dass diese aufkommende Ordnung weder ewig noch natürlich ist, sondern vielmehr eine historische Antwort auf ein allgegenwärtiges Bewusstsein der Unsicherheit darstellt. Diese ontologische Unsicherheit ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen, von denen ein wichtiger Aspekt die Entstehung des Nominalismus war. Da der Nominalismus davon ausgeht, dass Allgemeinbegriffe nur ein Produkt des Denkens sind und in der Wirklichkeit nicht existieren, war auch der nominalistische Gott ein fremder, unerreichbarer Gott, dessen Wille unergründlich war. Die Idee war, dass ein Gott, der sich so radikal von einer entfremdeten Welt unterscheidet, pragmatisch so gut wie tot ist. Angesichts dieser eklatanten Kontingenz und Entfremdung sah sich der Mensch gezwungen, eine „Gegenwelt“ auf zwei Ebenen zu konstruieren. Einerseits erfolgte dies auf der Ebene der materiellen Welt, die nun als Raum der reinen Macht wahrgenommen wurde, und andererseits auf der Ebene der politischen Welt, die nun als gesetzloser Naturzustand wahrgenommen wurde. In weiterer Konsequenz würde der souveräne Staat als seine eigene Gegenwelt entstehen. Dabei bildete er das primäre Mittel der Moderne gegen die Kontingenz und das Chaos des Naturzustandes.

Wo aber liegen die Ursprünge dieser politischen Gegenwelt und was sind ihre philosophischen Begründungen? Die Antwort liegt in der Beziehung zwischen den beiden Gegenwelten. Auf der einen Seite existiert die Welt, die ein Raum der reinen Macht ist, und auf der anderen Seite befindet sich der politische Raum, der wiederum Teil dieser Welt ist. So wird uns die Geschichte von den herrschenden Narrativen der Moderne allerdings nicht erzählt. Genau aus diesem Grund müssen die gängigen Narrative hinterfragt werden. Die übliche Erzählung beschreibt eine Welt voller Sakramente und innerkosmischer Götter. Das Säkulare sei darin ein „rein menschlicher“ Raum gewesen, der nur darauf gewartet hätte, besetzt zu werden, sobald der Mensch endlich dazu bereit war, sich aus den Fesseln von Religion und Aberglauben zu befreien. Dies wird auch als Subtraktionsthese bezeichnet, die behauptet, die moderne Welt sei eine Welt ohne Aberglauben und ohne die Fesseln des vormodernen Traditionalismus. Mit anderen Worten, ist das Säkulare das, was entdeckt (und nicht geschaffen) wird, wenn sich beim Menschen das rationale Denken gegenüber den Dogmen durchsetzt. John Millbank erinnert uns jedoch in „Theology and Social Theory: Beyond Secular Reason“ (Theologie und Sozialtheorie: Jenseits der säkularen Vernunft) daran, dass es einst das Säkulare nicht gab. Demnach musste das Säkulare sowohl in der Theorie als auch in der Praxis erst erdacht und geschaffen werden. Laut Ángela Iranzo Dosdad wurde durch die Schaffung des Säkularen nicht etwa auf die Sakralisierung verzichtet, vielmehr wurde dadurch die Welt selbst verabsolutiert und sakralisiert. Milbank argumentiert weiter: Durch diesen Schöpfungsprozess mussten drei ‚autonome‘ Objekte eingeführt werden. Das erste ist das ‚Natürliche‘, das den Naturgesetzen unterliegt und als solches eine ‚abgeschlossene Totalität‘ bezeichnet. Dieser Prozess der Automatisierung beschränkte sich nicht auf die natürliche Welt und die Sphäre des Wissens oder der Gesellschaftstheorie. Vielmehr wurde die Automatisierung ausgeweitet und schmiedete für sich selbst ein neues autonomes Objekt: das Politische als ein Feld der „reinen Macht“.

Der entscheidende Punkt besteht jedoch darin, dass „das Politische“ keinen Raum darstellt, der bereits autonom ist und nur darauf wartet, endlich besetzt zu werden. Seine Autonomie musste erst erdacht werden, bevor er besetzt und in sich selbst geschlossen werden konnte. Darüber hinaus wird, wie Albernaz und Chepurin beobachtet haben, das allgegenwärtige Bewusstsein der Unsicherheit, das eine Reaktion auf eine von Gott entfremdete Welt war, auch auf den politischen Raum übertragen. Dadurch wird die politische Welt ebenso begreifbar und manipulierbar wie die materielle Welt. Aus diesem Aspekt der reinen Macht und der Notwendigkeit, die Ordnung gegenüber der „vorpolitischen“ Welt zu sichern, ist schließlich das Konzept der Souveränität entstanden. Dieses Konzept erweckt dabei den Eindruck, dass es mit jeder symbolischen Ordnung untrennbar verbunden ist. In Wirklichkeit wird verschleiert, dass es sich hierbei um ein eindeutig eurozentrisches Konzept handelt. Die Politik der Souveränität ist obendrein untrennbar mit der Metaphysik der Moderne verbunden. Das heißt, die Moderne erfindet nicht nur die Souveränität als politisches Prinzip, in ihrer Totalisierung der Welt macht sie das Konzept über einen weltlichen Souverän überhaupt erst möglich. Kurzum: bei der Souveränität handelt es sich um eine Projektion. Dabei wird die Auffassung von der Welt als einem Raum der reinen Macht auch auf den politischen Raum projiziert. Entsprechend dieser Auffassung muss auch der politische Raum, ebenso wie die materielle Welt, manipulierbar sein.

Inzwischen konnten wir sehen, wie die politische Theologie dazu geeignet ist, die latenten metaphysischen Annahmen aufzudecken, die dem Konzept der Souveränität zugrunde liegen. Zudem macht sie deutlich, in welchem Maße die Souveränität ihren Ursprung in einer eindeutig eurozentrischen Metaphysik hat, anstatt ein struktureller Imperativ des Politischen zu sein. Aufgrund dieser Erkenntnisse sollten wir die Frage erneut stellen: Ist ein Konzept von Politik ohne Souveränität denkbar? Und welche Konsequenzen hat das für eine befreiende Politik? Dosdad argumentiert, dass dies zunehmend unmöglich wird. Denn die Immanentisierung der Welt würde die Politik auf eine horizontale Achse reduzieren, die keinerlei Beziehung zur transzendenten Dimension des Seins ermöglicht. Innerhalb des metaphysischen Rahmens eines erfundenen Säkularen kann es keine Transzendenz durch Gott geben. Die säkularen Räume der reinen Macht werden zu Räumen der Souveränität. Sie werden zu räumlichen und zeitlichen Dimensionen, in denen die Macht als Modalität der Unterdrückung eingesetzt wird.

Daher lautet die Frage: Wie können wir diese künstlich erzeugten Hindernisse in unserem Denken überwinden und über das Säkulare und über die Politik der Souveränität hinaus denken? Dies wirft eine weitere Frage auf: Welche alternativen Möglichkeiten gibt es, sich mit dem Problem des Menschen und der Kontingenz auseinanderzusetzen? Diese Fragen führen uns jedoch in eine Sackgasse, da das Genre der politischen Theologie letzten Endes eine westliche Disziplin ist. Aufgrund ihrer einseitigen Sicht auf die Welt, wird auch der Umfang unserer Untersuchung eingeschränkt. Darüber hinaus bleiben auch die möglichen Quellen für alternative Konzepte des Politischen von vornherein begrenzt. Vielleicht müssen wir daher unsere Lösung anderswo suchen: etwa in der islamischen Tradition. Dies bringt uns zu einer zweiten Linie der Kritik, nämlich einer normativen. Sie ist in der Tradition des Koran begründet und kann unsere genealogische Kritik ergänzen. Aus einer kritischen islamischen Perspektive betrachtet, haben jene Bedingungen, die die Erfindung der Souveränität begünstigt haben, auch die Bedingungen für die Entstehung von zusätzlichen „Schöpfern“ geschaffen. Zudem entstand daraus auch der Nährboden für die von ihnen geschaffenen soziopolitischen und wirtschaftlichen Realitäten, die wiederum den Menschen von seinem „gottgegebenen“ Selbst und vom eigentlichen Schöpfer entfremden. Im Koran bezieht sich dies auf den ṭāġūt, was wörtlich übersetzt „derjenige, der übertritt“ bedeutet. Toshihiko Isutzu beschreibt den ṭāġūt als jemanden, der den Sinn für seine Geschöpflichkeit verloren hat und daher seinen Platz in der göttlichen Ordnung überschreiten muss. Der Koran identifiziert die Ursprünge solcher Übertretungen als eine Form von istiġnāʾ, womit die Illusion von der Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit des Menschen in einer gottlosen Welt gemeint ist.

Souveränität als politisches Prinzip entspringt dem Bedürfnis nach einer symbolischen Ordnung, die das widerspiegelt, was sie als dauerhaft erachtet. In diesem Akt der Spiegelung musste der Mensch gottähnlich werden, wie Jacques Maritain erklärt. Somit wird ein Bild des Souveräns gezeichnet, der das politische Ganze transzendiert, so wie Gott den Kosmos transzendiert. Demnach würde der Souverän eine Macht verkörpern, die getrennt und transzendent ist – nicht an der Spitze, sondern darüber […] und den gesamten politischen Körper von oben regiert. Albernaz und Chepurin zufolge ist das Ergebnis dieser selbsternannten Suffizienz die transzendente Schaffung einer Logik der Möglichkeit der Manipulierbarkeit. Auf diese Weise findet der Mensch also eine neue Möglichkeit, mit der Realität umzugehen und sie zu meistern. Anstatt eine in der Natur gegebene Ordnung nachzuvollziehen, wird die Natur gewaltsam auf eine Ordnung reduziert, die ihr vom Menschen auferlegt wurde. Wenn wir über Souveränität im Rahmen einer alternativen Politik nachdenken, täten wir gut daran, die Warnungen muslimischer Denker wie Sherman B. Jackson zu beherzigen: Die angemessene Antwort auf das Problem der menschlichen Kontingenz besteht nicht darin, zu versuchen, es zu überwinden. Stattdessen gilt es die Antwort – sowohl als Subjekte als auch als Objekte – darin zu suchen, sich dem falschen Mysterium tremendum und der „Neuerschaffung“ zu widersetzen. Indem die genealogischen Ursprünge der Moderne erforscht und alternative Kritikpunkte in Erwägung gezogen werden, erscheint jene undenkbar gewordene Lösung wieder als machbar – nämlich eine Politik ohne Souveränität.

Ali S. Harfouch ist Schriftsteller und Forscher mit den Schwerpunkten Säkularität, zeitgenössisches islamisches Denken und politische Theologie. Er erwarb seinen Master-Abschluss in Politikwissenschaften an der Amerikanischen Universität Beirut.