Kommentar Erdoğan siegt, aber kann er nun nur noch verlieren?

Erdoğan hat zwar in vielerlei Hinsicht wiederholt Siege erringen können, doch letzten Endes werden ihn die zunehmenden Herausforderungen in die Knie zwingen.

(Übersetzt)

Erdoğan hat zwar in vielerlei Hinsicht wiederholt Siege erringen können, doch letzten Endes werden ihn die zunehmenden Herausforderungen in die Knie zwingen.

Die europäischen Medien haben sich die Wunden lecken müssen, nachdem sich Recep Tayyip Erdoğan bei einer Stichwahl am 29. Mai die Präsidentschaft für eine weitere Amtsperiode hat sichern können. Trotz der offensichtlichen Misswirtschaft erhielt Erdoğan 52 % der Stimmen und dies drei Monate nach dem verheerenden Erdbeben, wo die Regierung der Fahrlässigkeit bezichtigt wurde. Zwei Wochen, nachdem sich die AKP-Koalition die Mehrheit im türkischen Parlament sichern konnte, kommt es zu diesem Wahlergebnis, welches den siebten Wahlerfolg innerhalb von zwei Jahrzehnten markiert. Fast 40 % der türkischen Bevölkerung kennt keinen anderen Regenten als Erdoğan. 

Erdoğan gelang es lange Zeit, die Opposition zu spalten.  Dadurch stellte er sicher, dass sie nie in der Lage waren sich zu verbünden, um die AKP bei erneuten Wahlen herauszufordern. Das jetzige Wahlergebnis dahingegen dürfte für Erdoğan und seine Partei eine schwere Kost gewesen sein. Nach einer Reihe von erdrutschartigen Wahlsiegen ist die AKP seit 2018 auf Bündnisse angewiesen, um die parlamentarische Mehrheit zu bekommen. Zum ersten Mal in der 100-jährigen Geschichte der Türkei ging die Präsidentschaftswahl in eine zweite Runde. Mit einer Wahlbeteiligung von 85 % erhielt Erdoğan 52 % der Stimmen, während sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu auf 47 % der Stimmen kam. Kemal Kılıçdaroğlu und seine republikanische Volkspartei (CHP), konnten hier mit Unterstützung der zweitgrößten Oppositionspartei der Türkei, der pro-kurdischen HDP, ein Sechs-Parteien-Bündnis (Oppositionsbündnis) bilden. Während die AKP und Erdoğan zweifelsohne bei einem Teil der türkischen Öffentlichkeit beliebt sind, hat die säkulare Opposition nun gelernt, dass sie in Koalitionen eine ernsthafte Herausforderung für die AKP darstellen kann. Die CHP ist nun gezwungen, sich umzustrukturieren. So räumte Kemal Kılıçdaroğlu auch während seiner Wahlkampagne ein, dass in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden, als der konservativen Bevölkerung der Türkei säkulare Werte auferlegt worden sind. Nur eines hat die zersplitterte türkische Opposition geeint: der Hass auf den Präsidenten. Je länger Erdoğan im Amt bleibt, desto stärker wird ihr Zusammenhalt. 

In den ersten zehn Jahren seiner Regierungszeit konnte Erdoğan aus wirtschaftlicher Sicht nichts falsch machen: So ist das Wirtschaftsvolumen der Türkei von 230 Milliarden US-Dollar (2002) auf fast eine Billion US-Dollar (2013) angewachsen. Inzwischen hat sich dieser Betrag zwar auf etwa 850 Milliarden US-Dollar eingependelt, allerdings haben die Ausweitung der türkischen Exporte, die neuen Infrastrukturen, die Entwicklung des Verteidigungssektors und der zunehmende Wohlstand dabei verholfen, dass die AKP mehrere Wahlsiege für sich beanspruchen konnte. Ganz anders hingegen sah die Entwicklung in der zweiten Amtsdekade der AKP aus. Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) beglich 2013 zwar die gesamten Schulden der Türkei beim Internationalen Währungsfonds (IWF), allerdings stiegen seither die Staatsschulden an. Diese betragen nun mehr als die Hälfte des türkischen Bruttoinlandprodukts (BIP). Ein Großteil dieser Schulden wird in US-Dollar aufgenommen, was mit ein Grund für die regelmäßig in Erscheinung tretende Währungskrise im Land ist. Resultierend daraus ergab sich die galoppierende Inflation, die derzeit bei 90 % liegt und somit die türkische Industrie, die Landwirte und die Einzelhändler im ganzen Land in den Ruin treibt. Laut einer Umfrage der türkischen Gesellschaft für Unternehmungsforschung haben mehr als zwei Drittel der Menschen in der Türkei Probleme, ihre Lebensmittel und ihre Miete zu bezahlen, was wiederum zu einem Anstieg von psychischen Erkrankungen und Schulden führt. Einem Wirtschaftsexperten zufolge war das starke BIP-Wachstum, das die Türkei in den letzten Jahrzehnten erlebte, von vornherein „[…] nicht einmal nachhaltig […]“.

Viele Staatsoberhäupter auf der ganzen Welt würden alles dafür geben, sieben Wahlen in Folge zu gewinnen. In Anbetracht dessen jedoch, dass Erdoğan nun bis mindestens 2028 die Macht innehaben wird, ist die Opposition ihm gegenüber nur gewachsen. Auf diese Opposition weiß Erdoğan mit nur noch mehr Autorität und einer noch drakonischeren Haltung zu reagieren. Die AKP entwickelt sich immer mehr zu einem Erdoğan-Kult, bei dem alle potenziellen Herausforderer ins Abseits gestellt werden. Abdullah Gül, der die AKP mit Erdoğan gründete und ab 2005 türkischer Staatspräsident war, legte im Jahr 2014 sein Amt nieder und verließ die AKP. Nun kritisiert er Erdoğan. Ahmet Davutoğlu, einst Erdoğans wichtigster Berater, war 2009 Außenminister und 2014 Ministerpräsident und wurde von Erdoğan aus dem Amt gedrängt, weil er glaubte, er könne seine Herrschaft in Frage stellen. Ahmet Davutoğlu schloss sich daraufhin dem Oppositionsbündnis gegen die AKP an. Nach zwei Jahrzehnten hat Erdoğan immer noch keine Übergangsstrategie und scheint nicht einmal jemanden aufstellen zu wollen, der seine Nachfolge antreten könnte. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass Erdoğan nicht vorhat, in absehbarer Zeit abzutreten. Je länger Erdoğan mit seiner taumelnden Wirtschaft an der Macht bleibt, desto mehr wird die Opposition gegen ihn wachsen, weil damit einhergehend auch die Probleme der Türkei wachsen.

Die europäischen Medien stellten sich im Wahlkampf eindeutig auf die Seite der Opposition. Die internationale Wochenzeitung The Economist befürwortete Kemal Kılıçdaroğlu als nächsten Präsidenten der Türkei, während die französische Tageszeitung Le Monde zu wissen glaubte, dass Washington, Paris und Berlin insgeheim auf die Niederlage Erdoğans hofften. Die europäischen Staats- und Regierungschefs kritisieren Erdoğans wachsenden Einfluss und sein Mitwirken in globalen Angelegenheiten schon länger. Sie sehen in der Türkei nicht mehr als ein weiteres Luxemburg oder Portugal, das einfach mit der Europäischen Union verschmilzt und sich bei politischen Fragestellungen mit den Entscheidungen eben jener Mächte zufriedengibt. Aus diesem Grund ist der EU-Beitritt der Türkei seit bereits einem Jahrzehnt ins Stocken geraten. Darüber hinaus wächst auch jenseits des Atlantiks stetig der Widerstand gegen Erdoğan.

Lange Zeit baute Erdoğan seine eigene und die weltweite Popularität der Türkei auf Grundlage seiner Beziehungen zu den USA auf. Die USA hingegen haben in der Türkei jemanden gefunden, der – mit seinen Beziehungen zum Irak, Palästina, Syrien und Libyen – für die Zusammenarbeit geeignet war und der ebenso mit Washingtons globaler Agenda Schritt halten konnte. Seit dem ersten Besuch von Condoleezza Rice in der Türkei im Jahr 2003, bei dem sie von einer gemeinsamen Vision für die Welt sprach, lobten US-Beamte das türkische Modell und präsentierten die Türkei als eine wachsende Regionalmacht, die bei wichtigen globalen Fragen mit am Tisch sitzen sollte. Für Erdoğan war der globale Aufstieg der Türkei ein zentrales Argument für ihn und seine Führungsqualitäten. Doch als Erdoğans Macht wuchs, machten sich einige in den USA Sorgen und wandten sich im Zuge dessen gegen ihn. Dies führte dazu, dass die türkische Beteiligung an der Entwicklung der F-35 eingefroren und der Export sowie der Technologietransfer eines US-Luftverteidigungssystems abgelehnt wurde. Im Jahr 2020 gelang es dem US-Senat außerdem, ein Sanktionspaket gegen die Türkei wegen des Kaufs des Raketensystems S-400 von Russland zu verabschieden. Präsident Trump hatte sich dafür eingesetzt, die Verhängung von Sanktionen gegen die Türkei zu verzögern, doch verlor er 2020 die Präsidentschaftswahlen. Trotz der Zusammenarbeit zwischen der Türkei und den USA in vielen globalen Fragestellungen, wächst die Feindschaft gegen Erdoğan in den USA.

Auf gewisse Weise ist es Erdoğan gelungen, den leichteren Teil seiner seit zwei Jahrzehnten währenden Herrschaft zu realisieren, nämlich die Wahlen zu gewinnen. Wesentlich schwieriger dürfte es nun sein, die Wirtschaft in Ordnung zu bringen, seine Kritiker in Schach zu halten und die Außenbeziehungen der Türkei aufrechtzuerhalten. Mit immer kleiner werdenden Abständen zwischen seinen Wahlsiegen und dem immer größer werdenden Ausmaß von Problemen, bleibt Erdoğan nach mittlerweile zwei Amtsdekaden eigentlich nichts außer die Niederlage.