Geschichte Der Tag von ʿĀšūrāʾ: Als das Meer sich teilte (I)

Die Morgendämmerung bricht an, als Mūsā (as) und seine Anhänger das Ufer des Roten Meeres erreichen. Pharaos gesamtes Establishment steht kurz davor, die Gläubigen einzuholen. Es scheint, als gäbe es kein Entrinnen mehr.

Versuchen wir uns diese unheimliche Szene vorzustellen. Die Morgendämmerung bricht an, als Mūsā (as) und seine Anhänger das Ufer des Roten Meeres erreichen. Sie sind völlig erschöpft von der Flucht, denn Pharaos berüchtigte Armee war ihnen die Nacht über dicht auf den Fersen. Vor ihnen liegt nun das unüberwindbare Meer, während ihre Verfolger rasch näherkommen. Verzweiflung macht sich breit. Pharaos gesamtes Establishment steht kurz davor, die Gläubigen einzuholen. Es scheint, als gäbe es kein Entrinnen mehr. Um zu verstehen, wie es dazu kam, sollten wir auf drei wesentliche Faktoren eingehen, die diesem historischen Ereignis vorausgingen.

Mūsās Widerstand gegen Unterdrückung

Bereits in jungen Jahren bewies Mūsā (as) seine feste Entschlossenheit im Kampf gegen jegliche Form der Unterdrückung. Diese vorbildhafte Eigenschaft besaß Mūsā (as) noch bevor er von Allah (swt) zum Propheten berufen wurde. So griff er (as) einst energisch und ohne zu zögern in einen Streitfall ein, um ein Mitglied der schwachen und unterdrückten Klasse in Ägypten zu verteidigen, wobei er den Angreifer in seinem Eifer versehentlich tötete. Und als Mūsā (as) die Not zweier Frauen bemerkte, die von Hirten abgehalten wurden, ihre Herde zu tränken, eilte er ihnen zur Hilfe und tränkte ihr Vieh, obwohl er gerade aus Ägypten geflohen war. Anstatt sich von seiner strapazenreichen Flucht auszuruhen, half der fast erschöpfte Mūsā (as) diesen schwachen Frauen in Madian.

Diese edle Tugend zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Mūsā (as). Gleichzeitig gilt sein größter Widersacher, der Pharao, als Sinnbild für Unterdrückung! So sagt Allah (t) im Koran:

﴿إِنَّ فِرْعَوْنَ عَلَا فِى ٱلْأَرْضِ وَجَعَلَ أَهْلَهَا شِيَعًۭا يَسْتَضْعِفُ طَآئِفَةًۭ مِّنْهُمْ يُذَبِّحُ أَبْنَآءَهُمْ وَيَسْتَحْىِۦ نِسَآءَهُمْ ۚ إِنَّهُۥ كَانَ مِنَ ٱلْمُفْسِدِينَ

Wahrlich, Pharao zeigte sich überheblich im Land und machte dessen Bewohner zu gespaltenen Gruppen. Eine Gruppe von ihnen unterdrückte er, indem er ihre Söhne abschlachtete und (nur) ihre Frauen am Leben ließ. Wahrlich, er war einer von denen, die Unheil anrichten![28:4]

Genauso grauenvoll war jener Pharao – der schlimmste Tyrann aller Zeiten! Dieser kaltblütige Mörder ließ die männlichen Neugeborenen eines ganzen Volkes abschlachten. Mithilfe des Prinzips „teile und herrsche“ gelang es ihm, die Menschen zu knechten und so über ein großes Reich zu herrschen, was ihn zum ideologischen Vater der kolonialen Politik macht. Schon die bloße Erwähnung seines Namens genügte, um die Herzen seiner Untertanen in Angst und Schrecken zu versetzen. Doch obwohl er über diese schier uneingeschränkte Macht verfügte, sollte dieser Pharao durch Mūsā (as) herausgefordert, bloßgestellt und bezwungen werden.

Als es darum ging, Unrecht anzuprangern, Unterdrückung zu beseitigen und einem Tyrannen die Stirn zu bieten, zögerte Mūsā (as) keinen Augenblick. Seine edlen Tugenden wurden in der Sunnavon Muḥammad (s) nicht nur beibehalten, sondern sogar in der Šarīʿa verankert.

Von Ṭāriq ibn Šihāb (r) wird berichtet, dass ein Mann den Gesandten Allahs (s) fragte: „Was ist der beste Dschihad?“, worauf der Prophet (s) antwortete: Ein Wort der Wahrheit vor einem tyrannischen Herrscher. Quelle: Musnad Aḥmad 18449.

Heutzutage wird uns erzählt, es gäbe einen Mangel an Ressourcen, Medikamenten, Lebensmitteln, Arbeitsplätzen, Wohnungen, etc. Doch ganz gewiss gibt es auch im 21. Jahrhundert keinen Mangel an Tyrannei und Unterdrückung. Daher müssen wir uns fragen: Verkörpern wir das gleiche Pflichtbewusstsein wie Mūsā (as)? Sind auch wir bereit, für die Wahrheit einzustehen? Oder fühlen wir uns in unserem derzeitigen Zustand etwa wohl? Kümmert es uns denn nicht, dass die Welt von finsterer Dunkelheit bedeckt ist? Beschränken wir uns deshalb nur auf symbolische Gesten, anstatt uns mit aller Kraft einzusetzen, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen?

Der Erhabene ermahnt die Gläubigen im Koran:

﴿يَـٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُوا۟ عَلَيْكُمْ أَنفُسَكُمْ ۖ لَا يَضُرُّكُم مَّن ضَلَّ إِذَا ٱهْتَدَيْتُمْ ۚ إِلَى ٱللَّهِ مَرْجِعُكُمْ جَمِيعًۭا فَيُنَبِّئُكُم بِمَا كُنتُمْ تَعْمَلُونَ

Ihr, die ihr glaubt, wacht über euch selbst! Wer abirrt, kann euch keinen Schaden zufügen, wenn ihr rechtgeleitet seid. Zu Allah wird euer aller Rückkehr sein, und dann wird Er (euch) kundtun, was ihr zu tun pflegtet.[5:105]

In der Exegese (tafsīr) erwähnt Ibn Kaṯīr (rh) zu diesem Vers Folgendes: Von Imam Aḥmad wird berichtet, dass Qais sagte: Abū Bakr as-Ṣiddīq stand auf, dankte Allah, lobte Ihn und sprach: „Ihr Leute! Ihr lest diese āya, aber versteht sie auf die falsche Weise. Ich hörte den Gesandten Allahs (s) sagen: Wenn die Menschen das Böse sehen und es nicht ändern, wird Allah Seine Strafe herabschicken, um sie zu erfassen.“

Würden wir das bisher Genannte nur lesen, ohne es weiter zu hinterfragen, kämen wir bestimmt zu einem ganz anderen Schluss. Selbst die liberalsten „Muslime“ würden fast allem, was bisher erwähnt wurde, zustimmen, doch in ihrem weiteren Vorgehen würden sie sich weit von jenem entfernen, was die šarīʿa vorschreibt.

Gehe zum Pharao!

Kaum waren ihm die zentralen Gebote des tauḥīd (Glaube an die absolute Einheit Gottes) und des Gebets offenbart worden, erhielt Mūsā (as) den göttlichen Befehl: Gehe zum Pharao; denn er ist aufsässig geworden. [20:24] Bereits mit diesem Vers macht Allah (swt) deutlich, wie eng die Verbindung zwischen Gottesdienst und Politik im Islam ist, denn Er (t) befahl Seinem Gesandten, den Kampf gegen den Tyrannen unverzüglich aufzunehmen.

Zweifellos weist die Geschichte von Mūsā (as) viele Ähnlichkeiten zur sīra (Biographie) unseres Gesandten Muḥammad (s) auf. Darum verwundert es auch nicht, dass es gerade die Geschichte Mūsās (as) ist, die von Allah (swt) am häufigsten im Koran erwähnt und ausführlich beschrieben wird.

﴿إِنَّآ أَرْسَلْنَآ إِلَيْكُمْ رَسُولًۭا شَـٰهِدًا عَلَيْكُمْ كَمَآ أَرْسَلْنَآ إِلَىٰ فِرْعَوْنَ رَسُولًۭا

Wahrlich, Wir haben zu euch einen Gesandten geschickt, damit er Zeuge über euch sei, wie Wir einst zum Pharao einen Gesandten schickten.[73:15]

Die Ähnlichkeit zeigt sich unter anderem daran, dass beide Propheten (as) eine sehr enge Verbindung zwischen Politik und Gottesdienst pflegten. Es ist falsch, anzunehmen, dass politische Fragen für den Gesandten Allahs (s) in Mekka nur eine untergeordnete Rolle gespielt hätten und erst nach der hiğra (Auswanderung) nach Medina relevant geworden wären. Ganz im Gegenteil! Genau wie bei Mūsā (as) war die Politik für Muḥammad (s) von Anfang an ein bestimmendes Merkmal seines Prophetentums.

Tatsächlich bereitete die Botschaft des Islam den Quraiš sofort größtes Unbehagen, denn ihre Fürsten wurden bereits in vielen mekkanischen Suren für ihr ehrloses Verhalten verunglimpft. Ob es darum ging, die vorherrschende Korruption in Mekka anzuprangern, die ungerechten Fürsten der Quraiš zu tadeln, oder den anfangs sehr schwachen Muslimen den baldigen Sieg zu verheißen – all diese Themen wurden bereits in vielen mekkanischen āyāt behandelt. Somit bot die Offenbarung schon sehr früh einen geeigneten Rahmen, innerhalb dessen die ṣaḥāba verstehen konnten, welch zentrale und wichtige Rolle die Politik im Islam einnimmt. Die folgenden Verse bringen dies in bemerkenswerter Weise zum Ausdruck:

﴿وَلَقَدْ جَآءَ ءَالَ فِرْعَوْنَ ٱلنُّذُرُ ٤١ كَذَّبُوا۟ بِـَٔايَـٰتِنَا كُلِّهَا فَأَخَذْنَـٰهُمْ أَخْذَ عَزِيزٍۢ مُّقْتَدِرٍ ٤٢ أَكُفَّارُكُمْ خَيْرٌۭ مِّنْ أُو۟لَـٰٓئِكُمْ أَمْ لَكُم بَرَآءَةٌۭ فِى ٱلزُّبُرِ ٤٣ أَمْ يَقُولُونَ نَحْنُ جَمِيعٌۭ مُّنتَصِرٌۭ ٤٤ سَيُهْزَمُ ٱلْجَمْعُ وَيُوَلُّونَ ٱلدُّبُرَ ٤٥ بَلِ ٱلسَّاعَةُ مَوْعِدُهُمْ وَٱلسَّاعَةُ أَدْهَىٰ وَأَمَرُّ ٤٦

Auch zu den Leuten Pharaos sind ja die Warnungen gekommen. Aber sie verleugneten all Unsere Zeichen; darum erfassten Wir sie mit dem Griff eines Erhabenen, Allmächtigen. Sind die Ungläubigen unter euch etwa besser als jene? Oder habt ihr in den Schriften einen Freibrief? Oder sagen sie etwa: „Wir sind allesamt eine siegreiche Schar“? Die Scharen werden alle besiegt werden, und sie werden in die Flucht geschlagen. Aber nein! Die Stunde (des Gerichts) ist ihr Termin; und die Stunde ist weitaus schrecklicher und bitterer.[54:41-46]

Darüber hinaus wird in diesen Versen noch einmal deutlich, wie ähnlich die Missionen dieser beiden Propheten (as) waren. In dieser Sure lenkt Allah (t) unsere Aufmerksamkeit auf die Feinde Mūsās (as) und Muḥammads (s), nämlich auf den Pharao und sein Establishment einerseits und auf die Fürsten der Quraiš andererseits. So richtet Allah (t) an die Quraiš die Frage: Sind die Ungläubigen unter euch etwa besser als jene (d. h. die Leute des Pharao)? Damit zeigt Er (t) uns zudem auf, dass in jeder Ära jeweils eigene Argumente vorgebracht wurden, um einen Vorwand zu finden, sich den Gesandten Allahs zu widersetzen. Während der Pharao behauptete, selbst eine Gottheit zu sein, und die Quraiš stur an den irrationalen Bräuchen ihrer Vorfahren festhielten, verstecken sich viele Ungläubige heutzutage hinter der westlichen Ideologie des Säkularismus, nur um sich der göttlichen Botschaft zu verweigern. Zwar mögen sie hinsichtlich ihrer Färbung gewisse Unterschiede aufweisen – vor Allah (t) besitzen diese Scheinargumente allesamt die gleiche Schattierung von kufr. Da wir wissen, dass diese Koranverse bereits in Mekka offenbart wurden, können wir darin zugleich den visionären Charakter des Koran erkennen. In der Exegese (tafsīr) berichtet Imam aṭ-Ṭabari (r) diesbezüglich: Als die āya (Vers 54:45) herabgesandt wurde, fragte ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb (r): „Welche Schar wird in die Flucht geschlagen?!“ Später sagte ʿUmar: „Am Tag der Schlacht von Badr sah ich den Gesandten Allahs (s), wie er sich in seiner Rüstung bewegte und sprach:Die Schar wird besiegt und in die Flucht geschlagen!, da wusste ich, was mit dieser āya gemeint war“. In diesen kurzen, aber aussagekräftigen Versen informierte Allah (t) die Gefährten des Propheten (s), die ṣaḥāba (r), über ihren bevorstehenden Sieg. Dabei wurden sie zu einer Zeit offenbart, als die Muslime äußerst schwach waren und von den Ungläubigen verfolgt und unterdrückt wurden. Dennoch wurde in diesen mekkanischen Versen eine Zeit der Unabhängigkeit, Macht und Stärke prophezeit und auch begünstigt.