Westliche Konzeptionen Liberalismus: die Mutter aller Probleme?!

Der Liberalismus ist nicht bloß eine politische Philosophie. Er ist eine Denk- und Handlungsweise, der vielfältige Grundannahmen in Bezug auf seins- und erkenntnistheoretische sowie rechtliche und moralische Fragestellungen vorausgehen. Der Blick auf die Tiefenstruktur des Liberalismus offenbart eine über die neuzeitliche Revolution bis in die griechische Philosophie zurückreichende von schaytanischen Zügen durchdrungene Lebensform, die in ihrer modernen schizophrenen Gestalt von kaum jemanden besser verkörpert werden kann als durch Nietzsche, der dem Liberalismus zwar den Todesstoß versetzt, ihn aber zugleich auf die Spitze treibt.

Der ehemalige Innenminister Horst Seehofer sagte, die Mutter aller Probleme sei die Migration.[1]

Heiko Maas, damaliger Außenminister, erwiderte, die Mutter aller Probleme sei nicht die Migration, sondern der Nationalismus: der Nationalismus der ausländischen Autokratien als Kontrastmodell zu den liberalen Demokratien des Westens.[2]

Dass diese beiden Äußerungen das gleiche Narrativ stärken – einmal mit Blick auf die Innen- und einmal mit Blick auf die Außenpolitik -, liegt auf der Hand. Es ist das Narrativ der fehlenden Liberalität auf Seiten der nicht-westlichen Staaten, Gemeinschaften und Individuen. Der Westen verkörpere Vernunft, Aufklärung, Freiheit, Fortschritt, Toleranz, Gleichheit und Gerechtigkeit; alle anderen dagegen Irrationalität, Intoleranz, Rückschritt, Unterdrückung, Zwang, Terror und Barbarei. Und was ist das Kriterium zur Unterscheidung? – die Antwort auf die Gretchenfrage: „Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Freiheit?“[3]

Bist du freiheitlich liberal, gehörst du zu den Guten. Bist du es nicht, gehörst du zu den Bösen. Je nachdem, woher der politische Wind weht, bist du dann mal der Unvernünftige, dem im Rahmen von militärischen Interventionen Demokratie und Menschenrechte aufgezwungen – beziehungsweise dem „die westlichen Werte nahegebracht“ – werden müssen, oder auch wahlweise der Barbar, der ausgelöscht werden – beziehungsweise gegen den sich die „freie Welt verteidigen“ – muss.

Und wer stellt wem die Gretchenfrage? – wie auch sonst?! … der Liberale, der Vertreter universeller und allgemeingültiger Werte, dem rückständigen Gegner der Freiheit. Eins scheint jedenfalls klar: Die Mutter aller Probleme ist auf Seiten der Nicht-Liberalen angesiedelt, während sich die Liberalen auf aller Welt als die Bewahrer von Vernunft, Moral und Gerechtigkeit aufspielen.

Und genau diese Konstellation offenbart die Tiefenstruktur des Liberalismus.

Tritt man einen Schritt zurück, stellt man fest, dass nicht die Nicht-Liberalen das Problem sind. Vielmehr zeigt sich, dass gerade diese Struktur des Liberalismus die Mutter aller Probleme ist, die sowohl die internationalen geopolitischen Zusammenhänge als auch die Innen- und Außenpolitik Deutschlands fest im Griff hat.

Doch ist jetzt immer noch nicht geklärt, was den Liberalismus inhaltlich eigentlich ausmacht. Anders gefragt: Was heißt es, liberal zu sein? Bevor näher darauf eingegangen wird, muss Eins festgehalten werden: Die Liberalen setzen alles daran, die hegemonialen Strukturen auf allen nur erdenklichen Ebenen aufrechtzuerhalten. Und diesen Strukturen unterliegt auch ein Sprachregime.[4] Den Herrschenden dieses Regimes obliegt es – durch ihre Formulierungen, Konnotationen, Setzungen und Definitionen -, Diskurse zu steuern und sie gezielt für ihre Zwecke einzusetzen.[5]

Wie naiv wäre es also, gerade die Definition des Liberalismus zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu machen, die uns von den Liberalen vorgelegt wird? – das würde bedeuten, dass dann die Wertigkeit sowie die hegemoniale Struktur bereits mit in die Definition eingebaut wäre. Von der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es: „Liberalismus ist eine politische Weltanschauung, die die Freiheit des einzelnen Menschen in den Vordergrund stellt und jede Form des geistigen, sozialen, politischen oder staatlichen Zwangs ablehnt.“[6]

Nun ja … jeder einzelne Bestandteil dieser Definition könnte auf seine ideologisch-verzerrte Sichtweise sowie seine Zirkularität hin untersucht werden. Beschränken wir uns aber hier zunächst nur auf den ersten Teil: Der Liberalismus sei eine politische Weltanschauung. Um die „Neutralität“ des Liberalismus als politische Theorie nicht in Frage zu stellen, wird der Liberalismus in der Darstellung der Liberalen gerne auf seine rein politische Bedeutung reduziert.[7] Dass der Liberalismus nicht alleinig im Rahmen politischer Theorien zu verstehen ist, erkennt man jedoch direkt daran, dass der politischen Ausformulierung vielfältige Grundannahmen in Bezug auf seins- und erkenntnistheoretische sowie rechtliche und moralische Fragestellungen vorausgehen. Der Liberalismus gründet auf einem umfassenden System theoretischer sowie praktischer Grundsätze. Er ist Denk- und Lebensweise in Einem: Er ist eine allumfassende Lebensform[8].

Die Aufgabe sollte also nicht darin bestehen, sich dem liberalen Sprachregime zu beugen, sondern zum wahren Kern vorzudringen und dann klar auszusprechen, was den Liberalismus ausmacht und wie es um die zugrunde liegende Tiefenstruktur bestellt ist. Anders als von den Anhängern des Liberalismus zumeist vermittelt, liegen die Wurzeln des Liberalismus in der griechischen Philosophie. Und zwar sowohl in der den elitären philosophischen Bestrebungen innewohnenden Liebe nach Weisheit und göttlicher Erkenntnis als auch in dem gesellschaftlichen Abbild des Verhältnisses der königlichen Philosophen auf der einen und der verblödeten Masse auf der anderen Seite. So ist der ideale platonische Staat die Idealisierung einer totalitären Sklavenhaltergesellschaft, in der Lüge und Täuschung zu den Privilegien der auf einem Rassenmythos begründeten herrschenden Klasse gehören, um die gegenüber dem niederen Volk bevorrechtete Herrenrasse in ihrer Herrschaft zu festigen. Ziel ist die Herrschaft der Weisen über die Verblödeten und Nutzlosen: die Sophokratie.[9]

Zu einer Verschärfung der griechischen Weisheits-Liebe kommt es dann in der frühen Neuzeit: Francis Bacons „Wissen ist Macht“[10], René Descartes „Ich denke, also bin ich“[11] und Imannuel Kants „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“[12] markieren als Leitgedanken die in der griechischen Philosophie vorbereitete menschliche Inanspruchnahme göttlicher Verfügungsgewalt. Der Mensch – als das mit autonomer Vernunft ausgestattete Subjekt – rückt ins Zentrum.[13] Er befreit sich von jeglicher Autorität – von Traditionen und Religionen -, sodass das in Freiheit begründete Individuum nun zum zentralen Ausgangspunkt des neuzeitlichen und modernen Liberalismus wird. Dies ist die abstrakte Bedeutung, die sich etymologisch im Wort „liberal“ und seiner vielfältigen Derivate widerspiegelt[14].

Die von dieser neuzeitlichen Revolution in Gang gesetzten Umwälzungen sind so einschneidend, dass sich ihre Folgen auf jede individuelle, gesellschaftliche und zivilisatorische Erscheinungsform auswirken:

(1) Es entsteht ein radikaler Individualismus, in dessen Rahmen den einzelnen Individuen umfassende Freiheitsrechte zuerkannt werden: persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Eigentumsfreiheit und viele mehr. Dies ist zudem der Ausgangspunkt des fiktionalen Naturzustandes des Menschen, in dem John Locke auf Basis der Grundlegung von Thomas Hobbes das Bild von unpolitischen und sich zwangsläufig gegenseitig bekriegenden Individuen entwirft, auf dessen Basis er zum Ziele der individuellen Selbsterhaltung den modernen Staat als zentrale und über alle politische Gewalt verfügende Instanz begründet.[15] Diese individuellen Freiheiten sowie der ihnen aufgesetzte zentralistische Nationalstaat sind der Ausgangspunkt aller neuzeitlichen sowie modernen liberalen politischen Philosophien und Gesellschaftssysteme. Dies gilt für die gesamte Bandbreite: vom Kapitalismus bis hin zum Kommunismus.[16]

(2) Es entsteht eine Vorstellung von der Rationalität des Menschen, die als maßgeblich instrumentalistisch zu bezeichnen ist. Im Rahmen dieser wird der Mensch als ein auf seine autonome Vernunft reduziertes Subjekt konzeptionalisiert, welches der objektivierten, auf mechanische Prozesse reduzierten und entzauberten Natur ganz im Sinne ihrer instrumentellen Nützlichmachung und Unterwerfung gegenübergestellt wird.[17] Konsequenz sind die modernen subjektsphilosophischen Erkenntnistheorien – Rationalismus und Empirismus -, die dem wissenschaftlichen Positivismus und der allgemeinen Wissenschaftsgläubigkeit bis hin zum modernen Szientismus im Sinne der sogenannten New Atheists den Weg ebnen.

(3) Es bildet sich das liberal-ökonomische Paradigma der kapitalistischen Ära heraus, in dem die höchsten Zwecke zu Profitmaximierung und Kapitalakkumulation verkommen. Durch die Disziplinierung des in die kapitalistischen Strukturen eingegliederten Bürgers wird ein homo oeconomicus [18] geschaffen, der ausschließlich vom Streben nach materiellem Profit geleitet ist. Die Gesellschaft wird mit einer „Ordnung der Dinge“[19] überzogen, sodass die Moralität des Bürgers mittels Recht, Bürokratie, Mechanisierung, Materialismus und Instrumentalismus im „stählernen Gehäuse“[20] gefangen ist, wo die Individuen auf ihr Funktionieren in der kapitalistischen Maschinerie eingeschworen werden.

(4) Ferner gibt es eine Revolution in Bezug auf die Grundlegung von Recht und Moral. Da sowohl traditionelle als auch religiöse Moralbestände aufgrund ihrer autoritären und vermeintlich vernunftwidrigen Herkunft abgelehnt werden, wird das Projekt der Neubegründung der Moral auf Basis der autonomen Vernunft entworfen. Als Vermengung aus einer teleologisch begründeten aristotelischen Tugendethik und ihrem Kontext entzogenen ursprünglich theologisch begründeten christlich-jüdischen Moralbeständen entstehen in diesem Zuge die beiden wesentlichen modernen liberalen Moralphilosophien[21]: der Utilitarismus als Nutzenethik, begründet von Jonathan Bentham und John Stuart Mill, und die Kantische Deontologie als Pflichtethik. Bedingt durch dieses Projekt sowie durch die naturalistische Herangehensweise, im Zuge derer das Band zwischen Sein und Sollen zerschnitten wird, wird der Moral-Begriff so umgedeutet, dass Recht und Moral als zwei sich nicht notwendigerweise überlagernde Bereiche voneinander getrennt werden.[22] Konsequenz ist der Rechtspositivismus und die nach rationaler Rechtfertigung schreiende und in den Emotivismus abgleitende moderne Moralphilosophie.

(5) Mit der Vorstellung von der autonomen Vernunft des Menschen als moralischer Gradmesser geht mit Blick auf die traditions- und autoritätsbestimmte Vergangenheit zudem die Überzeugung einher, dass die Menschheit – was Moralität und Rationalität anbelangt – immer fortschreitet. Es kommt zu einer Fortschrittsideologie, deren heutige (post)modernistische Erscheinungsformen feministische Bewegungen, Gender-Ideologien sowie der Transhumanismus des Silicon Valley sind.

(6) Der von den Liberalen heraufbeschworene Kontrast zwischen den die Autonomie ihrer Vernunft verwirklichenden Individuen und Gemeinschaften und den vermeintlich in Tradition, Religion und Kultur weiterhin verhaftet bleibenden Völkern drückt sich nicht nur im beanspruchten Universalismus moderner Ideologien aus, sondern noch viel einschneidender in ihrer Herrenmenschen- bzw. Sklavenhaltermentalität sowie in ihrem Rassismus, Kolonialismus und bis heute andauernden Imperialismus. Die zur Legitimation dienende Rassifizierung wird dabei sowohl auf horizontaler, d. h. im Sinne der Ethnisierung der Unterschiede zwischen Völkern und Nationen, als auch auf vertikaler Ebene, d. h. im Sinne des sozialen Antagonismus zwischen den Herren und Sklaven, vollzogen.[23]

All diese Ausprägungen des Liberalismus können einer umfassenden Kritik unterzogen werden. Sei es die Kritik…

– am Individualismus, auf dessen Grundlage über viele Jahrzehnte zusammengewachsene Familien- und Gesellschaftsstrukturen zerstört werden;

– an den individuellen Freiheiten, die aufgrund ihrer unnatürlichen Abstraktheit, ihrer inneren Inkohärenz und ihrem Widerspruch zur menschlichen Natur zu Luftschlössern verkommen;

– am modernen Nationalstaat, der per Konstruktion den Individuen antagonistisch entgegensteht und sie im Rahmen seiner Institutionen via Bürokratie, kultureller Durchdringung, Indoktrination, Kulturindustrie und aufgezwungener Disziplinierung zu isolierten, sinnentleerten und narzisstischen Staatsbürgern erzieht, für die Nationalismus, Faschismus und Nazismus besonders gut Identifikation stiften können[24];

– an der Ausbildung einer instrumentellen Rationalität, die sowohl die Natur zerstört als auch den Menschen im Widerspruch zwischen seinem kausal-deterministisch eingespannten Körper und dem in Freiheit begründeten Geist zerreißt;

– an der kapitalistischen Durchdringung des Bürgers um den Preis der Aufgabe aller maßgeblichen Normen und Werte, in deren Rahmen Armut und Elend nicht mehr das Werk der Natur sind, sondern das Produkt der liberal-kapitalistischen Ökonomie, die jedes durch sie erzeugte Problem zu einem ökonomischen Problem macht und somit nicht nur in der Verschärfung des Problems, sondern die völlige Selbstzentrierung des Kapitalismus bedingt;

– an der modernen Moralphilosophie, die im Anschluss an die unzureichende Begründbarkeit ihrer utilitaristischen und deontologischen Versionen zu einem Emotivismus verkommt, bei dem die Inkommensurabilitäten unterschiedlicher Ansätze zur Begründung der Moral und ihre gegenseitigen Widerlegungen so zunehmen, dass notwendigerweise davon auszugehen ist, dass hinter den einzelnen Begründungsversuchen nichts weiter als nach außen hin verborgene Gefühls- und Geschmacksurteile stecken[25];

– an der irrsinnigen Fortschrittsideologie, die sowohl den Menschen in ein unmenschliches Projekt einspannt als auch die Erklärung einer säkularisierten Theodizee schuldig bleibt[26];

– und an den rassistischen, kolonialistischen und imperialistischen Bestrebungen, die im Kern auf nichts anderes abzielen, als auf die Degradierung und Auslöschung der Unvernünftigen, also der Nicht-Liberalen.

Diese Liste kann problemlos fortgeführt werden. Besonders hervorzuheben ist jedoch das völlige Scheitern der rationalen Rechtfertigung der Moral, die einer der zentralen Bausteine der Vorstellung von der Autonomie, zu Deutsch: Selbstgesetzgebung, der Vernunft und damit des Liberalismus ist. Mit dem Scheitern lösen sich die begründungstheoretischen Grundlagen der ideologischen Überbauten der postmodernistischen Auffassungen rund um Feminismus, Gender und LGBTQ in Luft auf. Die Konsequenzen spüren wir überall: die Inkohärenz und Verwahrlosung des moralischen Diskurses. Aus diesem zutiefst emotivistisch ablaufenden moralischen Diskurs entsteht ein gespaltener gesellschaftlicher Bewusstseinszustand, vor dessen Hintergrund alle so tun, als wäre das Projekt der Aufklärung geglückt, wohingegen die Umsetzung zumeist vollkommen doppelmoralisch und unter Vorzeichen höherer Interessen abläuft. So geht aus dieser Inkohärenz eine Unstimmigkeit zwischen der moralischen Autonomie des Individuums und der systematischen Manipulation der die gesellschaftliche Ordnung bestimmenden Instanzen hervor, die die Paradoxie der modernen politischen Kultur auszeichnet. Konsequenz sind endlose Debatten mit unvereinbaren Standpunkten im Rahmen eines Gegensatzes zwischen einem auf Rechte und abstrakten Freiheiten gegründeten Individualismus und der auf Nutzen, Machtinteressen und Willkür ausgerichteten sozialen Ordnungssysteme.[27]

Um diesen Konsequenzen Ausdruck zu verleihen, soll sich zum Abschluss jemandem gewidmet werden, der als einer der genialsten, aber zugleich kontroversesten Philosophen in die Geschichte der westlichen Philosophie eingegangen ist: Friedrich Nietzsche. Nietzsche wird hier stellvertretend für den Gipfelpunkt der Inkohärenz und inneren Widersprüchlichkeit des Liberalismus angeführt. Niemand vermochte es wie er, zum einen die Misere des Liberalismus so scharf zu diagnostizieren, und zum anderen die daraus erwachsene Kultur der Manipulation unter den Vorzeichen des Strebens nach Macht im höchsten Maße zu verkörpern und in diesem Zuge den Liberalismus selbst auf die Spitze zu treiben. Er war größter Kritiker, und zugleich größter Vertreter.

Er war nicht derjenige, der sich den Mitteln der Vertuschung oder dem Maskenspiel der Manipulation bediente. Er sprach das aus, was niemand wagt, auszusprechen, was aber doch alle wissen: Die Geschichte der westlichen Philosophie – und damit auch die moderne Erscheinungsform des Liberalismus – ist eine Geschichte vor dem Hintergrund des Kampfes zwischen der Herrenrasse und den Sklaven, bei dem es aus westlicher Perspektive darum geht, die Herrenrasse obsiegen zu lassen und die Sklaven im schlimmsten Fall auszulöschen. Nietzsche diagnostizierte dies messerscharf und reihte sich unter seinem Motto der Umwertung aller Werte und mit der Konstruktion seines Übermenschen in genau diese Tradition ein[28]: Er radikalisierte die Autonomie des Subjektes, präsentierte sich als offener Unterstützer der Sklaverei, verherrlichte die Aristokratie und verabscheute jede Abweichung. Gleichzeitig setze er dem Liberalismus den Todesstoß – und gerade das macht ihn zu einer überaus passenden Verkörperung der inneren Zersetzung und Auflösung des Liberalismus.

Wen wundert es noch, dass all die großen Idole und Vordenker der westlichen Geistesgeschichte – Platon, Aristoteles, Locke, Kant, Hegel, Marx, Heidegger und Co.[29] – ohne ihre selbst-vorausgesetzte Angehörigkeit zur Herrenrasse und ihre Rechtfertigung von Sklaverei, Rassismus und Kolonialismus nicht zu denken sind? Strukturell gehören letztere zum Liberalismus wie die Butter auf‘s Brot. Und wer lässt sich schon gerne die Butter vom Brot nehmen?

Resümiert man, dann stellt man fest, dass der Liberalismus nicht einfach nur eine weltanschaulich neutrale politische Philosophie ist. Ganz im Gegenteil: Der Liberalismus ist eine umfassende Lebensform, die im Kern aus zwei wesentlichen Aspekten besteht: erstens, die menschliche Hybris[30], göttliche Ideale in Anspruch zu nehmen, die sich im Streben nach Ewigkeit, Unsterblichkeit, Universalität und absoluter Freiheit ausdrückt, und zweitens, die strukturelle Herabwürdigung, Entehrung, Rassifizierung und Vernichtung der Schwachen, Fremden und Andersartigen.

Und genau eine solche Einstellung sollte einem mit Blick auf die islamischen Quelltexte bekannt vorkommen: Es war der Schaytan, der sich erstens in seiner Hybris dem göttlichen Gebot widersetzte und Adam (as) im Sinne der Motive Ewigkeit und Unsterblichkeit verführte, und der zweitens sowohl durch die  Aufwertung seines aus Feuer erschaffenen Selbst als auch durch die Herabwürdigung des aus Lehm erschaffenen Menschen ein rassistisch legitimiertes Narrativ erzeugte.

Somit ist der so verstandene Liberalismus eine in die tiefsten Abgründe reichende Denk- und Handlungsweise, die wesentliche schaytanische Züge trägt und im Rückbezug auf die Äußerungen von Seehofer und Maas viel eher verdient, als Mutter aller Probleme identifiziert zu werden.

[1] H. Seehofer: „Migration Mutter aller Probleme“ (https://www.focus.de/politik/deutschland/kocht-migrationsstreit-der-union-erneut-hoch-migration-ist-mutter-aller-probleme-seehofer-erntet-heftigen-widerspruch_id_9542587.html)

[2] H. Maas: https://fb.watch/7qfgEY6iRZ/

[3] In Anlehnung an Goethes sogenannte Gretchenfrage „Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Religion?“; Textauszug aus Faust I (Vers 3415); vgl. auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Gretchenfrage

[4] Michael Esders, Sprachregime: Die Macht der politischen Wahrheitssysteme

[5] Frank Liedtke, Martin Wengeler, Karin Böke (Hrsg.), Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik.; Erhard Eppler, Kavalleriepferde beim Hornsignal. Über Sprache und Politik.; Annika Fischer, „Begriffe besetzen“ – Der Kampf um Worte in der Politik

[6] Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17794/liberalismus

[7] Ovamir Anjum on Liberalism: https://www.youtube.com/watch?v=GqP8M5cEUT8

[8] Vgl. zum Lebensform-Begriff: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen

[9] Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, vgl. Band I, Kapitel „Der königliche Philosoph“

[10] Vgl. Wolfgang Krohn, Francis Bacon; vgl. Interpretation in Adorno und Horkheimers Dialektik der Aufklärung und in Pichts Der Begriff der Natur und seine Geschichte

[11] René Descartes, Meditationes de prima philosophia

[12] Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?

[13] Vgl. die Darstellung von Pichts Philosophie in Hauke Ritz‘ Der Kampf um die Deutung der Neuzeit

[14] Etymologisches Wörterbuch des Deutschen: liberal, …

[15] Thomas Hobbes, Leviathan; John Locke, Two Treatises of Government

[16] Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?; vgl. auch Muhammad Legenhausen, Book Review: Whose Justice? Which Rationality? by Alasdair MacIntyre

[17] Max Weber, Wissenschaft als Beruf; Stichwort: „Entzauberung der Welt“

[18] Eduard Spranger, Psychologie der Typenlehre

[19] Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften

[20] Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

[21] Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend

[22] Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?

[23] Domenico Lozurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell

[24] Wael Hallaq, The Impossible State

[25] Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend

[26] Hans Poser, Von der Theodizee zur Technodizee. Ein altes Problem in neuer Gestalt

[27] Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend

[28] Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral

[29] Donatella Di Cesare, Heidegger, die Juden, die Shoah

[30] Extreme Form von Selbstüberschätzung und Hochmut; Realitätsferne