Von den Schattenseiten der Wissenschaft …
Johann Wolfgang von Goethe schrieb: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ Doch wer seinen Blick immer nur gen Licht wendet, neigt dazu, den Schatten zu übersehen, gar ihn völlig aus den Augen zu verlieren.
Ähnlich schaut es aus mit der Wissenschaft. Wer seinen Blick immer nur auf die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und den technischen Fortschritt richtet, der übersieht allzu schnell das Ausmaß der Schattenseiten der Wissenschaft. Wenn dieser einseitige Blick so überhandnimmt, dass die Wissenschaft – an ihrem Erfolg und instrumentellen Nutzen gemessen – verabsolutiert und selbst in den Bereichen des Lebens zum einzigen Gradmesser erhoben wird, in denen sie eigentlich fehl am Platz ist, dann nennt man das Szientismus.
Szientismus steht für die Auffassung, alle nur erdenklichen Fragen im Rahmen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung beantworten zu können. Diese Auffassung ist in der heutigen Zeit sehr verbreitet. Zunehmend dominiert sie die unterschiedlichen Formen der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnungssysteme sowie die unterschiedlichen Formen der gesellschaftlichen Interaktion – sowohl in alltäglichen Diskussionen in Schule, Universität, Beruf und Freizeit als auch im akademischen Diskurs.
Doch was sind die Schattenseiten sowohl der Wissenschaft im Allgemeinen als auch ihrer positivistischen Auslegung? Ist es nur die Zerstörung der Natur und ihrer inhärenten Wertigkeit, die die Wissenschaft im Zuge ihrer Funktion als Werkzeug zur instrumentellen Ermächtigung zu verantworten hat? Oder liegt das eigentliche Problem, von dem die Zerstörung in Folge kapitalistischer Interessen dann nur ein Symptom wäre, noch viel tiefer?
In der Tat werden wir im Folgenden sehen, dass die Problematik dieser sich im neuzeitlichen Europa ausgebildeten Form von Wissenschaft noch viel tiefer sitzt. Die Wissenschaft als Instrumentarium hat nicht nur die zerstörerischen Auswüchse industriell-kapitalistischer Bestrebungen zu verantworten. Sie ist bestimmt durch die Form des Wissens, das sich im Zuge der neuzeitlichen seins- und erkenntnistheoretischen Entwicklungen konstituiert hat. Dabei wird sich zeigen, dass dies eine Form des Wissens ist, deren Wesen keineswegs weltanschaulich neutral ist. Es ist eine Form des Wissens, die vom ideologischen Standpunkt aus an die aristotelische Wissenschaftstheorie anschließt und ihre darin intrinsisch begründete Menschenfeindlichkeit dadurch zum Ausdruck bringt, dass sie im Widerspruch zu selbstevidenten Auffassungen von individueller, zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher und sogar zivilisatorischer Natur steht (deren Bedeutung in einem zukünftigen Artikel genauer dargelegt wird).
Dieser eine pauschale Ablehnung der sich im neuzeitlichen Europa ausgebildeten Form von Wissenschaft motivierende Widerspruch sollte bei der folgenden Analyse vor dem Hintergrund verstanden werden, dass im Rahmen dieses Artikels der Blick auf die im modernen Habitus mündende performative Dimension des instrumentellen Vollzugs der Wissenschaft, seiner abstrakten wissenschaftstheoretischen Grundannahmen sowie der aus der damit zusammenhängenden Lebensform resultierenden Einstellung geworfen wird. Das bedeutet, dass die konstativen (im Gegensatz zu performativen) wissenschaftlichen Erkenntnisse und daraus hervorgegangenen technischen Errungenschaften nicht per se zu verwerfen oder als ausschließlich einer bestimmten kulturhistorischen Genese zuzuordnen sowie aus ihrer Perspektive zu verwenden sind.
Beginnen wir mit einem kurzen historischen Überblick: Genauso wie die meisten Erscheinungen der westlichen Zivilisation auf die Ursprünge in der griechischen Philosophie zurückzuführen sind, so ist dies auch bei der neuzeitlichen Wissenschaft der Fall. Die Grundlage für die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft lieferte das kompromisslose Festhalten an der aristotelischen Logik. Zu Beginn der Neuzeit ereignete sich eine auf diesem Boden stattfindende seins- und erkenntnistheoretische Revolution von zentraler Bedeutung: Die auf die griechische Philosophie zurückgehende Objekts- ging über in die Subjektsphilosophie, die die gesamte Neuzeit und auch das Verständnis von Wissen und Wissenschaft daraufhin paradigmatisch bestimmen sollte.
Was war der Grund für diese Revolution und was ereignete sich im Übergang von Objekts- zu Subjektsphilosophie genau?
Ihren Anfang nahm diese Revolution in Folge von Veränderungen innerhalb des Dreier-Gefüges Mensch-Gott-Welt. Das ehemals in sich geschlossene Gefüge aus den den Kosmos und die menschliche Vernunft zusammenhaltenden Götterbildern des philosophischen Gotteskonzeptes bei den Griechen konnte im Zuge der mittelalterlichen nominalistischen sowie okkasionalistischen Theologie und die durch sie propagierte Zentralisierung des Willens Gottes und seiner Transzendenz nicht mehr aufrechterhalten werden. Begründet durch die christliche Vorstellung von der menschlichen Gottesebenbildlichkeit kam es infolgedessen zur menschlichen Usurpation (Inbesitznahme) göttlicher Prädikate, die aufgrund des scholastischen Gottesbildes die Grundlage für die Ausbildung der Autonomie der menschlichen Vernunft bildete. Begleitet wurde diese Entwicklung durch die Entdeckung der räumlichen Ausmaße des Universums und den dadurch bedingten Verlust der Zentralität des Menschen innerhalb des Universums, weshalb der Aufrechterhaltung des Anthropozentrismus eine zentrale Rolle zukam. Im Rahmen eines Kunstgriffes wurde dies durch die Verlagerung der aristotelischen Seinsprinzipien in die Konstitution des menschlichen Bewusstseins verwirklicht. Dies geschah im Sinne der Überlegung, dass wenn das Dasein auf unserem im Universum verlorenen Irrstern noch irgendeinen Sinn haben sollte, so müsse das Sein vom Menschen selbst hineingelegt werden. Der Mensch musste den Irrstern, den man früher Wahrheit nannte, als Künstler seiner selbst in souveräner Freiheit entwerfen, um aus der Kraft dieses Entwurfes dann leben zu können. So wurde das neuzeitliche Subjekt zu dem Produkt einer Projektion, bei der die Evidenz der aristotelischen Prinzipien der Natur dem Inneren des Menschen eingeschrieben wurde, sodass der Mensch meinte, in der Tiefe seiner eigenen Seele das Fundament aller wahren Erkenntnis entdecken zu können. Bei dieser Verlagerung spielte der Rückbezug auf die aristotelische Philosophie in Form der Referenz auf die absolute Gültigkeit der Logik also die zentrale Rolle. Konsequenz war die zentrale Prämisse der neuzeitlichen Wissenschaft, dass die Gesetze der Natur auf den Gesetzen des Denkens beruhen müssen, d. h. dass die Physik axiomatisch auf der Logik aufgebaut werden müsse. Diese Tatsache drückte sich dann aus in dem Kantischen Grundsatz, dass die Axiome der Logik als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erkenntnis sein müssen. Diese neuzeitliche Revolution endete schließlich in der Philosophie der Subjektivität, die wesentlich dadurch charakterisiert war, dass das menschliche Bewusstsein zum Sitz der absoluten Evidenz wurde und es nun die Basis für die Erkenntnis zeitloser Wahrheit bildete. In dieser Folge galt Erkenntnis genau dann als wissenschaftlich, wenn sie von dem Menschen bewiesen wurde und das wiederum bedeutete die Demonstration der Notwendigkeit der Erkenntnis unter Verwendung logischer Regeln.
Die Implikationen dieser neuzeitlichen Revolution waren nicht nur von einschneidender Bedeutung. Sie führten zu der Überlagerung vielschichtiger Inkohärenzen, die letzten Endes auf den Zusammenbruch der durch sie zusammengehaltenen neuzeitlichen Metaphysik hinauslaufen und die unter der westlichen Hegemonie stehende Zivilisation in ein nihilistisches Zeitalter stürzen sollten.
Schauen wir uns die zentralen Implikationen eine nach der anderen genauer an:
1. Die Voraussetzungslosigkeit als Voraussetzung: Die positive Wissenschaft unserer Zeit betrachtet ihre Voraussetzungslosigkeit paradoxerweise als eine ihrer Voraussetzungen. Damit versucht sie, sich von der Metaphysik zu emanzipieren, wenngleich sie die Privilegien der Metaphysik – wie zum Beispiel das Festhalten an den Kategorien der aristotelischen Logik – nicht von sich streifen möchte. Diese Form von Reflexion – bzw. eher gesagt Nicht-Reflexion – über die eigenen Prämissen zeugt von sowohl Hochmut als auch Lüge. Durch sie kleidet sich die grundlos gewordene Positivität der Wissenschaft mit dem Kostüm der Metaphysik, obwohl sie meint, es schon längst abgelegt zu haben.
2. Der Zweifel an der subjektzentrierten Erkenntnis vor dem Hintergrund der exzentrischen Position des Globus: Die exzentrische Position des Globus sorgt vor dem Hintergrund der Philosophie der Subjektivität nach wie vor dafür, dass die Wahrheit des Universums von der Wissenschaft gerade durch das Subjekt erkannt werden soll, das sich in einem abgelegenen Winkel des Universums befindet. Gerade die Gewissheit der physikalischen Erkenntnis über die Dimensionen des Universums sorgt also dafür, das neuzeitliche Subjekt in den Zweifel seiner Prämissen von der subjektzentrierten Erkenntnis zu stürzen.
3. Die Negation der Anfangslosigkeit der Welt und der Zweifel an der überzeitlichen Gültigkeit der Logik: Die im Zuge der zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnis befürwortete Negation der zeitlichen Anfangslosigkeit der Welt geriet in den Konflikt mit dem Festhalten an der Vorherrschaft der Logik. Die Forderung nach der absoluten Gültigkeit der Logik, die als ehemalige Struktur des Seins via Projektion auf das Subjekt der Erkenntnis verlagert wurde, erforderte jedoch nach wie vor das Festhalten an der Ewigkeit der Welt. So wurde der Ursprung der zentralen Prämisse der positiven Wissenschaften – die Überzeitlichkeit und absolute Vorrangstellung der Logik – immer noch weiter verschüttet, sodass die Verlautbarung ihrer Voraussetzungslosigkeit quasi unausweichlich wurde.
4. Der Historismus und seine Implikationen: Der in die Geisteswissenschaften Einzug findende Historismus, der besagt, dass alle geistigen Gebilde Ausdruck der Zeitlage sind, in der sie entstanden sind, beförderte einen Relativismus der Geschichtsschreibung, durch den der Anspruch auf überzeitliche und demnach absolute Erkenntnis entzogen wurde. Dies steht im Widerspruch zur neuzeitlichen Konstitution des Subjekts der Erkenntnis, das die Grundlage für die Philosophie der Subjektivität bildete. Ferner offenbarte der Historismus, der mit dem dem modernen Fortschrittsglauben kritisch gegenüberstehenden Aufkommen der postmodernen Reflexion zusammenfällt, vor dem Hintergrund der Positivität moderner Wissenschaften eine Konsequenz, die nur schwierig zu glauben war: Wer behauptet, dass die Welt wirklich so sei, wie sie die moderne Wissenschaft darstellt, der ist zugleich genötigt, zu behaupten, dass ausgerechnet in der westlichen Staatengemeinde der kapitalistischen Ära die Bedingungen gegeben waren, unter denen der Mensch der Wirklichkeit am nächsten gekommen ist. Wer dann noch die Erkenntnisse der Physik überzeitlich verabsolutiert, der muss behaupten, der westeuropäische Kapitalismus sei jene Ordnung der Verhältnisse, in der die absolute Wahrheit zur Erscheinung gelangt.
5. Die Verurteilung der Teleologie und die Zertrümmerung des aristotelischen Kausalitätsgefüges: Als das in der griechischen Philosophie konstituierte Dreier-Gefüge Mensch-Gott-Welt noch intakt war, war Aristoteles‘ Lehre von der Teleologie und seine davon nicht losgelöst zu sehende Lehre von den vier Ursachen für eine jede weltimmanente Erklärung der Wirklichkeit noch von zentraler Bedeutung. Durch den Einfluss der mittelalterlichen Scholastik kam es dann sowohl zu einer theologisch begründeten Verurteilung der Teleologie: ein final agierender Gott wäre ein Anthropomorphismus, als auch zu einer nominalistisch begründeten Verurteilung von Begrifflichkeiten wie Zweck, Sinn, etc., die durch einen von der griechischen Philosophie beeinflussten Okkasionalismus und Atomismus forciert wurde. Durch die neuzeitliche Revolution wurde die Lehre von der Teleologie und dem Gefüge der vier Ursachen Wirkursache (causa efficiens), Zweckursache (causa finalis), Materialursache (causa materialis) und Formursache (causa formalis) dann schlussendlich zertrümmert. Zweck-, Form- und Materialursache wurden eliminiert und nur noch die Wirkursache wurde in einer umgedeuteten Version übrig gelassen. Die Zweckursache musste dem Notwendigkeitsideal weichen, das durch die von der Vorherrschaft der Logik bestimmte wissenschaftliche Forschungsmethode impliziert wurde. In diesem Sinne verfolgte die Physik der Neuzeit das Programm, auch die Sphäre der Veränderung in der Zeit der strikten Notwendigkeit zu unterwerfen; denn nur, wenn die Gesamtheit aller Prozesse der Notwendigkeit unterworfen sind, ist Wissenschaft auch von natürlichen Prozessen möglich. Der neuzeitliche Begriff des Naturgesetzes war das Ergebnis dieser Projektion der strikten Notwendigkeit in den Bereich der natürlichen Abläufe der Zeit; und würde man der Zweckursache nur einen kleinen Raum lassen, dann würde der gesamte monolithische Block der Notwendigkeit, auf dessen Geschlossenheit das gesamte Gebäude der Physik beruht, in sich zusammenbrechen. Um die Zweckursache dann endgültig loszuwerden, wurde mittels der cartesianischen Trennung von der physikalischen Substanz (res extensa) und der denkenden Substanz (res cogitans) das denkende Ich schlussendlich vollends aus der Natur herausgebrochen und in ein Niemandsland außerhalb der Natur verfrachtet. So ließen sich alle übrigen Naturprozesse im Sinne ihrer umgedeuteten Wirkursache, d. h. streng deterministisch, erklären. Die Irrationalität dieser Umdeutung lässt sich am deutlichsten daran offenlegen, dass jeder Physiker Physik nur mit dem Zweck betreibt, Kausalität im Sinne der Wirkursache aufzudecken; und dass die Physik sich so sehr mit diesem Zweck identifiziert hat, dass sie nicht einmal bemerkt, dass das gesamte Unternehmen „neuzeitliche Physik“ das überwältigendste Beispiel für die Wirksamkeit eben jener Finalursache ist, die ausgelöscht werden sollte. Auch begegnen wir diesem Phänomen in der modernen Biologie, in der es nicht möglich zu sein scheint, bei der Beschreibung von komplexen biologischen oder ökologischen Systemen ohne ein umfassendes Repertoire an Zweckbegrifflichkeiten auszukommen. Dies ist Ausdruck einer milden Form von Schizophrenie, zu der die Wissenschaftler aufgrund ihrer theoretischen Voraussetzungen genötigt werden.
6. Das neuzeitliche Materie-Verständnis als Grundlage für die Produktionsformen der kapitalistischen Industriegesellschaft: Die neuzeitliche Wissenschaft machte aber auch vor dem durch den Modus der Möglichkeit und vom Gesichtspunkt der Qualität bestimmten Materie-Begriff der Griechen (Platoniker/Aristoteliker) keinen Halt. Der neuzeitliche Materie-Begriff basiert auf der korpuskularen Atomtheorie der Vorsokratiker Demokrit und Leukipp und ist durch das allumfassende Ideal der Quantifizierung bestimmt. Der Ursprung des neuzeitlichen Quantifizierungsfokus war die Projektion alles dessen, was ist, in das Koordinatensystem des geometrischen Raumes, dem als vierte Koordinate der lineare Zeitparameter hinzugefügt wurde. So wurde der Raum der Physik als ein Zwittergebilde konzeptionalisiert: einerseits durch den noetischen Raum der Mathematik, andererseits durch den physikalischen Raum der Materie. Durch die Projektion mathematischer Anschauungsformen in den Bereich der Natur hat sich die Physik die Möglichkeit geschaffen, alles, was materiell ist, zu quantifizieren. Übergeordnet kann dies als die Projektion des Raumes der Physik in ein Raum-Zeit-Schema verstanden werden, die der Projektion in die Sphäre der Notwendigkeit entspricht und die die Grundlage für objektive Erkenntnis und damit für die Möglichkeit von Wissenschaft lieferte. Obwohl die Grundlagenkrise der Physik des 20. Jahrhunderts immer noch fortbesteht, hat man sich seit der Neuzeit nicht von der Voraussetzung abbringen lassen, Materie als das zu erachten, was es gibt; die nackte Faktizität mache das Wesen der Materie aus. Dabei wird der Materie eine Bestimmung oktroyiert, die einer Denkart entspringt, die für eine ganz spezifische Phase der europäischen Zivilisation steht. Es ist die Denkart, die in einem engen Verflechtungszusammenhang mit dem bourgeoisen Frühkapitalismus einzuordnen und dadurch charakterisiert ist, die Materie als das Ausgedehnte im Raum (res extensa) zu erachten. Dadurch, dass die dogmatische Annahme der neuzeitlichen Wissenschaft darin besteht, alles, was materiell und wirklich ist, müsse quantifizierbar sein, wurde alles der Materie anhaftende Qualitative entweder auf Quantitatives zurückgeführt oder ins transzendentale Subjekt (res cogitans) verlagert. Dieser Quantifizierungsanspruch war die wesentliche Voraussetzung dafür, dass die neuzeitliche Wissenschaft zur Grundlage für Produktionsformen der kapitalistischen Industriegesellschaft werden konnte; ganz im Sinne des kapitalistischen Grundprinzips der totalen Quantifizierbarkeit. Begleiterscheinung war, dass der Materie alles Werthafte entzogen wurde, was zuvor entweder auf einer teleologisch aufgeladenen griechischen Kosmos-Vorstellung oder auf einem theologisch begründeten Schöpfungsparadigma basierte. Dies beförderte die Trennung von Wert und Tatsache, was wiederum die Trennung von Sein und Sollen sowie von Recht und Moral und schließlich den die heutige Rechtsordnungen bestimmenden Rechtspositivismus bedingte.
7. Die Grundlagenkrise der Mathematik: Bestärkt wurde der Zweifel an der Vorrangstellung der aristotelischen Philosophie durch die bis in die heutige Zeit andauernde Grundlagenkrise der Mathematik – der reinsten aller auf die aristotelische Wissenschaftstheorie zurückgehenden Wissenschaften. Die Grundlagenkrise wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts durch den Zusammenbruch der euklidischen Geometrie hervorgerufen, die zuvor die zentrale Rolle im Rahmen der mathematischen sowie physikalischen Auseinandersetzung mit der Geometrie des Universums spielte und darüber hinaus als eine der Hauptstützen der metaphysischen Philosophie schlechthin galt. Im Rahmen der Bemühungen um eine alternative Fundierung der Mathematik erfuhr die Krise zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die folgenreichen Gödel‘schen Unvollständigkeitssätze dann ihre Fortsetzung. Bis zur heutigen Zeit konnte sich die Mathematik davon nicht wirklich erholen.
8. Die Physik in der Sackgasse: Die Physik steckt nun schon seit einem guten halben Jahrhundert in der Krise. Das Überkommen der Inkommensurabilität zwischen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik stellt nach wie vor eine unüberbrückbare Herausforderung dar und rückt das physikalische Ideal einer vereinheitlichenden physikalischen Theorie des Universums in weite Ferne. Gewartet wird auf den nächsten Paradigmenwechsel, wie er sich in der Geschichte der Physik schon des Öfteren ereignet hat. Im Weg stehen sich die Physiker dabei aber selbst: Mit dem Streben nach Einfachheit, Natürlichkeit, Symmetrie und Eleganz wird die physikalische Theorienbildung durch das Ideal ästhetischer Attraktivität dominiert. Die Suche nach Schönheit bzw. das Festhalten an den ästhetischen Anforderungen der aristotelischen Wissenschaftstheorie führt die Physik immer weiter in eine Sackgasse. So hat die moderne Physik schon längst die Grenzen der empirischen Wissenschaft überschritten – auf Kosten ihrer eigenen fundamentalen Prämissen – und riskiert damit, zu einem Niemandsland zwischen Mathematik, Physik und Philosophie zu werden, das keinem der jeweiligen Ansprüche genügen kann.
9. Die Selbstaufhebung der Evolutionsbiologie: Im Rahmen der evolutionsbiologischen Erklärung der Entstehung des Menschen wird die gesamte wissenschaftliche Anthropologie zu einer Theorie von der tierischen Natur des Menschen. Diese Theorie wirft jedoch die ganze metaphysische Lehre von der Philosophie der Subjektivität über Bord, die vermittels der aristotelischen Wissenschaftstheorie ihrem Ursprung nach auf die göttliche Erkenntnis zurückgeht. Die Naturalisierung der göttlichen Erkenntnis impliziert nicht nur einen inneren Widerspruch, sondern führt zu einem Konflikt mit der Annahme, dass das menschliche Bewusstsein im Besitz jener zeitlosen Erkenntnis wäre, durch die es sich zum Subjekt der Naturwissenschaften qualifiziert. So führt die Evolutionsbiologie unweigerlich zur Aufhebung der Grundlagen, durch die der wissenschaftliche Anspruch der Evolutionsbiologie selbst verbürgt ist.
10. Der reduktionistische Wahn der Psychologie und ihre Einspannung zur Disziplinierung des Menschen: In Folge der Naturalisierung der Anthropologie erfuhr auch die Psychologie einen zutiefst reduktionistischen Einschlag. All das, was wir als spezifisch menschlich und typischerweise als mit der menschlichen Psyche verknüpft verstehen, wurde nach und nach entmenschlicht. Im Zuge des wissenschaftspositivistischen Ideals der allumfassenden empirischen Objektivierung gab es keinen Platz mehr für Gefühle, Emotionen, Mentales, Geistiges, etc., die ja ganz wesentlich subjektiv und nicht von außen zugänglich sind. Sie mussten weichen, und so wurde die einst als Logos (griech.: Kunde, Lehre, Wissenschaft) von der Psyche (griech.: Seele, Geist, Gemüt) verstandene Wissenschaft zur modernen reduktionistischen Psychologie, die auf dem Prinzip aufbaut, die gesamte menschliche Realität auf das Zusammenspiel von auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten beruhenden biologischen, sozialen und kulturellen Determinismen zurückzuführen. Diese Naturalisierung der Anthropologie geschah im engen Zusammenspiel mit der Entstehung der auf Profitmaximierung und Kapitalakkumulation ausgerichteten liberal-kapitalistischen Ökonomie. Die naturalistische Reduktion des Menschen und die Zentralisierung seiner instrumentellen Rationalität war passender Ausgangspunkt der Disziplinierung des in die kapitalistischen Strukturen eingegliederten Bürgers, aus dem der homo oeconomicus geschaffen wurde, der in all seinen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt und ausschließlich vom Streben nach materiellem Profit geleitet ist. So diente die moderne Psychologie (im Sinne des Freud‘schen Mottos „Wo Es war, soll Ich werden“, das stellvertretend dafür steht, die auf Befriedigung dringenden Triebe – Es – eine im Sinne der instrumentellen Rationalität verstandene Vernunft – Ich – unterzuordnen) dazu, die Gesellschaft mit einer „Ordnung der Dinge“ (M. Foucault) zu überziehen, sodass die die Moralität des Bürgers mittels Recht, Bürokratie, Mechanisierung, Materialismus und Instrumentalismus im „stählernen Gehäuse“ (M. Weber) gefangen ist, wo die Individuen auf ihr Funktionieren in der kapitalistischen Maschinerie eingeschworen und zu fragmentierten, sinnentleerten und narzisstischen Staatsbürgern erzogen werden.
11. Die Inquisition der Natur im Dienste der Macht: F. Bacons Ausspruch „Wissen ist Macht!“ steht stellvertretend für ein unter den neuzeitlichen und modernen Wissenschaftlern weit verbreitetes Verhältnis zwischen der Erkenntnis der Wahrheit und dem Feld der Macht. Wie kam es dazu? In Folge der Philosophie der Subjektivität kam es zu einer Gegenüberstellung vom Menschen und der Natur, bei der die menschliche Naturerkenntnis zu einem Instrument der Naturbeherrschung wurde. Mit der Naturbeherrschung verband die Wissenschaft die Erklärung der Natur im Sinne ihres Gebrauches und ihrer Beherrschung. Eng verbunden mit dem Streben nach dieser Erkenntnis im Sinne einer Inquisition war der in der Aufklärung entwickelte Begriff des autonomen (selbstgesetzgebenden) Selbst. Durch die quantitative Objektivierung und rationale Beherrschung der Natur gewann der Mensch seine Autonomie und Freiheit von den Lasten der Geschichte, Autorität und Unterdrückung. Diese Freiheit schlug um in das obsessive Streben nach Wissen zur Kontrolle, Beherrschung und Manipulation. Das Streben nach Wissen gründete dabei im Willen zur Macht – im Drang nach universeller Herrschaft, die in nichts Anderem endete als in der Zerstörung der Natur und ihrer Instrumentalisierung im Rahmen übergeordneter, zumeist ökonomischer Interessen. In diesem Lichte stellt sich die folgende mehr als gerechtfertigte Frage: Inwiefern kann eine Wissenschaft, die das Objekt ihrer Erkenntnis zerstört, eine wahre Wissenschaft sein?
12. Der Konflikt zwischen Theorie und Praxis: Durch die neuzeitliche Projektion der Strukturen des Seins auf das Subjekt der Erkenntnis kam es zu einer Gegenüberstellung von Subjekts- und Objektssphäre, bei der eine Vorstellung von der Rationalität des Menschen entstand, die als maßgeblich instrumentalistisch zu bezeichnen ist. Im Rahmen dieser wurde der Mensch als ein auf seine autonome Vernunft reduziertes Subjekt konzeptionalisiert, das der objektivierten, auf mechanische Prozesse reduzierten und entzauberten Natur ganz im Sinne ihrer instrumentellen Ermächtigung und Unterwerfung gegenübergestellt wurde. Konsequenz war die Zerstörung der Natur und das Auseinanderbrechen zweier ehemals nicht zu trennender Sphären, die sich als Konflikt zwischen Theorie und Praxis, theoretischer und praktischer Vernunft, Notwendigkeit und Möglichkeit, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, usw. abzeichnen. Dabei wird der Mensch vollends auseinandergerissen: Auf der einen Seite ist er evolutionäres Produkt der Sphäre der Notwendigkeit und demgemäß eingespannt in ein kausal-determiniertes Geflecht aus von den Naturgesetzen bestimmten physikalischen Prozessen, die keine Freiheit mehr zulassen, auf der anderen Seite bildet die in Freiheit entworfene Autonomie der Vernunft die Grundlage jedweder zivilisatorischen Erscheinung und eben auch der theoretischen Grundlegung jenes kausalen Determinismus.
Diese Auflistung könnte auf sowohl horizontaler als auch vertikaler Ebene noch weiter ergänzt und ausgeführt werden. Eins ist jedoch klar und zur gleichen Zeit bemerkenswert: Fassen wir zusammen, so bekommt die positivistische Auslegung von Wissenschaft vor allem dann eine paradoxe Note, wenn wir bemerken, dass es weder der Zweifel noch das fehlende Wissen ist, was dazu führte, das ehemals in sich stimmige Gefüge aus Mensch, Gott und Welt und die daraus entstandenen Inkohärenzen nicht mehr geschlossen bzw. widerspruchsfrei deuten zu können; ganz im Gegenteil, war es die unausweichliche Erkenntnis auf Basis der Prämissen der neuzeitlichen Wissenschaft, die dazu führte, die klassische Metaphysik – gerade des theoretischen Systems der griechischen Philosophen, das die Frage nach den Strukturen des Seins beantwortete und ihren Zusammenhang mit der Wahrheit der Erkenntnis verbürgte – zum Einsturz zu bringen und der westlichen Zivilisation den Eintritt in das nihilistische Zeitalter zu ebnen.
Fazit: Die neuzeitliche sowie moderne Wissenschaft (in ihrer performativen Erscheinungsform) ist keineswegs ein weltanschaulich neutrales Unterfangen. Das durch sie produzierte Wissen ist bestimmt durch eine Form des Wissens, die vom Ursprung her in der aristotelischen Wissenschaftstheorie gründet und sich im Zuge der sich im Rahmen des Paradigmenwechsels von Objekts- zu Subjektsphilosophie ergebenen seins- und erkenntnistheoretischen Revolution der Neuzeit vor allem auf Basis des Festhaltens an der Vorherrschaft der Logik konstituiert hat. Infolgedessen war es nicht mehr möglich, die in sich geschlossene Metaphysik der Griechen aufrechtzuerhalten. Durch die Kombination aus reaktionärem Festhalten an Elementen der griechischen Metaphysik und die unter der neuzeitlichen Hegemonie der Philosophie der Subjektivität stehende Neuausrichtung war es nicht mehr möglich, ein in sich stimmiges Bild des Dreier-Gefüges Mensch-Gott-Welt zu entwerfen. Dies ging mit der Überlagerung vielschichtiger Inkohärenzen einher, die letzten Endes dazu führten, ein Bild von der Natur des Menschen und der Welt zu entwerfen, das den Eintritt in ein durch den Nihilismus bestimmtes Zeitalter ebnete.
So proklamierte die neuzeitliche Wissenschaft, sich von der Metaphysik der Griechen emanzipiert zu haben, während sie still und heimlich immer noch das Kleid der Metaphysik anbehielt. Die exzentrische Position des Globus, die wissenschaftlich begründete Negation der Anfangslosigkeit der Welt, der Einzug findende Historismus und die Naturalisierung der wissenschaftlichen Anthropologie zu einer tierischen Natur des Menschen führten dazu, den Zweifel an der der neuzeitlichen Wissenschaft zugrundeliegenden Philosophie der Subjektivität sowie an der Vorherrschaft der Logik zu säen. Es kam zur scholastisch begründeten Verurteilung der Teleologie, der Zertrümmerung des aristotelischen Kausalitätsgefüges und zu ihrer Ersetzung durch einen alles auf kausal-deterministische Wirkursachen umdeutenden Reduktionismus. Infolgedessen kam es zu einem unter dem Motto der allumfassenden Quantifizierung stehenden atomistischen Materie-Verständnis, das durch die Austreibung aller der Welt theologisch oder teleologisch begründet anhaftenden inhärenten Wertigkeit zur Grundlage für die Produktionsformen der kapitalistischen Industriegesellschaft sowie der rechtspositivistisch bestimmten Auslegung des Rechts wurde. Die wesentlichen wissenschaftlichen Disziplinen Mathematik, Physik und Biologie erfuhren tiefgreifende Grundlagenkrisen, von denen sie sich aufgrund ihrer ideologisch vorbelasteten Verblendung bis heute nicht erholen konnten. Die Auswirkungen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts führten zur instrumentellen Rationalität und der damit zusammenhängenden Vorstellung von der Unterwerfung der Natur im Dienste der Macht sowie der psychoanalytisch begründeten Disziplinierung des inneren Selbst. In der strukturell von der instrumentellen Rationalität ausgehenden Gegenüberstellung von Subjekt- und Objektssphäre gipfelte der Konflikt zwischen den unter dem Schlagwort „Theorie vs. Praxis“ zusammenzufassenden Dichotomien, die zur Erkenntnis führten, dass die beiden grundlegenden epistemologischen Pfeiler der westlichen Zivilisation – der wesentlich auf der menschlichen Freiheit gründende Liberalismus sowie der auf die Freiheit vernichtende strikte Notwendigkeit basierende Szientismus – im Widerspruch zueinander stehen.
Im folgenden zweiten Teil werden wir den Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch der griechischen Metaphysik und dem Eintritt in das nihilistische Zeitalter etwas näher beleuchten.