Kommentar Von den Schattenseiten der Wissenschaft zum Eintritt in das nihilistische Zeitalter (Teil 2)

Die Konstitution der modernen Wissenschaft führte zu vielschichtigen Inkohärenzen und damit zum Zusammenbruch der klassischen Metaphysik, die bis in die heutige Zeit die Basis für die theoretische sowie praktische Grundlegung der westlichen Zivilisation darstellt. Diese Erschütterung der Grundlagen der westlichen Zivilisation betrifft sowohl Rationalität und Moralität als auch die gesamte gesellschaftspolitische Ordnung unserer Zeit und ebnet den Eintritt in ein durch den Nihilismus bestimmtes Zeitalter.

… zum Eintritt in das nihilistische Zeitalter

Wir haben im ersten Teil gesehen, dass die neuzeitliche sowie moderne Wissenschaft (in ihrer performativen Dimension) keineswegs ein weltanschaulich neutrales Unterfangen ist. Die durch sie produzierte Form des Wissens gründet vom Ursprung her in der aristotelischen Wissenschaftstheorie und hat sich im Zuge der sich im Rahmen des Paradigmenwechsels von Objekts- zu Subjektsphilosophie ergebenen seins- und erkenntnistheoretischen Revolution der Neuzeit vor allem auf Basis des Festhaltens an der Vorherrschaft der Logik konstituiert. Infolgedessen war es nicht mehr möglich, die in sich geschlossene Metaphysik der Griechen aufrechtzuerhalten. Durch die Kombination aus reaktionärem Festhalten an Elementen der griechischen Metaphysik und die unter der neuzeitlichen Hegemonie der Philosophie der Subjektivität stehende Neuausrichtung war es nicht mehr möglich, ein in sich stimmiges Bild des Dreier-Gefüges Mensch-Gott-Welt zu entwerfen. Dies ging mit der Überlagerung vielschichtiger Inkohärenzen einher, die letzten Endes dazu führten, ein Bild von der Natur des Menschen und der Welt zu entwerfen, das die klassische Metaphysik – gerade des theoretischen Systems der griechischen Philosophen, das die Frage nach den Strukturen des Seins beantwortete und ihren Zusammenhang mit der Wahrheit der Erkenntnis verbürgte – zum Einsturz bringen sollte und daraufhin der westlichen Zivilisation den Eintritt in ein durch den Nihilismus bestimmtes Zeitalter ebnete.

In der durch den Wissenschaftspositivismus bestimmten Gegenwart leben wir also im Zeitalter des Zusammenbruchs der klassischen Metaphysik – im Zeitalter gerade jenes epochalen Ereignisses der menschlichen Geschichte, das F. Nietzsche mit seinem oft nur oberflächlich verstandenem Ausspruch „Gott ist tot!“ prognostizierte. In Die fröhliche Wissenschaft von 1882 schrieb er dazu im Aphorismus mit der Nummer 125 in unnachahmlicher Manier:

„Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?« rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!« – Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«“

Und Nietzsche hatte Recht: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!“ – Warum? Wenn Nietzsche hier vom Tod Gottes spricht, dann ist das weder Wunschdenken noch Ausdruck einer atheistischen Haltung. Es ist die damalige Voraussage des gesellschaftlichen Zustandes unseres technisch-wissenschaftlichen Zeitalters. Wie eine philologisch-philosophische  Aufarbeitung zeigen würde (vgl. G. Picht, Nietzsche), steht bei Nietzsche der Tod Gottes für den Zusammenbruch der klassischen Metaphysik, die bis in die heutige Zeit die Basis für die theoretische sowie praktische Grundlegung der westlichen Zivilisation darstellte. Wenn Nietzsche hier also den Tod Gottes prognostiziert, dann ist das keine belanglose Randglosse. Es kommt einer Erschütterung der Grundlagen der westlichen Zivilisation gleich, was sowohl Rationalität und Moralität als auch die gesamte gesellschaftspolitische Ordnung unserer Zeit betrifft. Es ist das, was Nietzsche als Nihilismus bezeichnet: der Zusammenbruch der Metaphysik ebnet den Eintritt in ein nihilistisches Zeitalter, das durch die Nichtigkeit der inneren Stimmigkeit jedweder Rationalität, die Inkohärenz einer jeden Begründung von Moral und durch ein manipulatives Auftreten gesellschaftspolitischer Ordnungssysteme bestimmt ist. Damit kommt Nietzsches Prognose zentrale Relevanz zu; sowohl für den Befürworter als auch den Kritiker der in das technisch-wissenschaftliche Zeitalter eintretenden westlichen Zivilisation.

Doch was hat das Ganze mit Gott zu tun? Der Zusammenhang zwischen dem „Tod Gottes“ und dem Zusammenbruch der Metaphysik wird uns direkt ersichtlich, wenn wir einsehen, dass die Metaphysik dadurch charakterisiert ist, Gott als Grund der Wahrheit in jedem Denken mitzudenken.  Doch welcher Gott ist hier gemeint? Der Gott der Offenbarungsreligionen, der Gott einer wie auch immer gearteten Theologie, oder das Produkt der Ideenwelt der griechischen Philosophen? Es ist letzterer – der Gott der Philosophen, wie er von Picht bezeichnet und auf die folgende Weise beschrieben wird: Der Gott der Philosophen ist die Bedingung der Möglichkeit von Philosophie. Er steht für das „Licht der Evidenz“, d. h. für den, in dessen Licht das Denken die Wahrheit erkennt. Er ist der, „in dessen Licht sich die Gewalten der Natur zu einem Kosmos willig zusammenfügen“, und „dessen erleuchtende Kraft die Fundamente der europäischen Gesittung, nämlich Vernunft und Humanität, entdecken ließ.“ Er ist der, „mit dem wir nach der gemeinsamen Lehre der gesamten westlichen Philosophie zu denken beginnen müssen, wenn wir überhaupt denken wollen“. Bei Platon heißt er die Idee des Guten, bei Aristoteles der nous, dann später bei Kant das transzendentale Subjekt und bei Hegel der absolute Geist. Er zieht sich durch die gesamte westliche Philosophie hindurch, als derjenige, der die Wahrheit verbürgt, der alles zusammenhält, und ohne den alles zusammenfallen würde.

Vor diesem Hintergrund erkennen wir direkt, welch dramatische Konsequenzen auf die westliche (und nicht nur intellektuelle) Zivilisation einzubrechen drohen, wenn dieser Gott von der Bildfläche verschwindet.

Für Nietzsche steht der Tod Gottes allerdings nicht nur für den Tod des Gottes der Philosophen allein, sondern gleichermaßen auch für den Tod des Gottes des Christentums. Das liegt darin begründet, dass er das Christentum im Rahmen seiner scholastisch-theologischen Darlegung als zutiefst mit dem Platonismus verschmolzen diagnostiziert. Im Rahmen der Philosophisierung des Gottesbildes durch die christliche Theologie wurde der Gott der ursprünglichen Offenbarung mit dem Gott der Philosophen in Eins gesetzt, sodass das Christentum mit dem Zusammenbruch der Metaphysik notwendigerweise das gleiche Schicksal ereilen muss.

Picht kommt zu dem Schluss, dass obwohl die christliche Theologie nicht von der Metaphysik der Griechen loszulösen ist, eine theologische Revision es vermag, den Gott der ursprünglichen Offenbarung von seiner philosophischen Umklammerung zu lösen und im Tod des Gottes der Philosophen die Chance zu erkennen, eine Entfesselung bzw. Wiederbelebung des Gottes der Offenbarung anzustreben. Inwiefern das Wesen der heute im Laufe der Tradition vielfach philosophisch aufgeladenen christlichen Offenbarung geeignet ist, eine für die Revision entsprechende Grundlage zu bieten, scheint mehr als fraglich. Doch mit Rückbezug auf die authentisch erhaltene islamische Offenbarung – den Koran und die Sunna des Propheten Muhammad (s) – bahnt sich vor dem Hintergrund dieser Problemstellung insbesondere für das islamische Denken und Handeln in Form der islamischen Umma ein Ausweg aus dem nihilistischen Dilemma, wenn es es vermag, an die noch vorhandenen der in der Dialektik der westlichen Zivilisation gefangen gehaltenen positiven Bestände anzuschließen, eine Revision der mit der Metaphysik verwachsenen islamischen Scholastik vorzunehmen und an jene islamische Traditionen anzuknüpfen, die die Ressourcen für eine durch das islamische Paradigma bestimmte Rationalität und Normativität sowie eine daraus abgeleitete Gesellschaftsform bieten können.

Die Lösung der Grundproblematik – die philosophische Umklammerung des Gottes der Offenbarung unter der Hegemonie des Gottes der Philosophen und ihre (Umklammerung) gesamtgesellschaftliche Implikation – kann also nur darin bestehen, den Gott der Philosophen im Angesicht seines durch die seins- und erkenntnistheoretische Revolution der Neuzeit und durch die positive Wissenschaft zu seinem heutigen Schattendasein beförderten Wesens endgültig zu begraben, um dann Raum zu schaffen, für den wahren Gott – den Gott der Offenbarung –, der im Denken des Menschen ansonsten durch teuflische Einflüsterung immer wieder Gefahr laufen wird, vom Gott der Philosophen und seinen Propheten  überdeckt oder eingehüllt zu werden.

Das Begraben des Gottes der Philosophen ist dabei jedoch kein Leichtes, schließlich war das gesamte Gefüge der politischen, der gesellschaftlichen und der moralischen Ordnung und überhaupt der gesamte Bau der westlichen Kultur auf dem Fundament entwickelt, das mit dem Tod Gottes zu wanken beginnt. Und auch die bis dato vorherrschende menschliche Vernunft ist ein Götterbild des Gottes der Philosophen, indem die Erkenntnis der Wahrheit mittels der Vernunft die Erscheinung der göttlichen Gegenwart in ihr ist. Und darüber hinaus hängt im Gott der Philosophen nicht nur das Wesen der vorherrschenden Vernunft, sondern auch jegliche Form der Moralität, die begründet wurde, als man den Menschen zum Bilde Gottes zu gestalten begann. So muss nicht nur die traditionelle europäische Moral – wie die aristotelische Tugendethik – mit dem Tod Gottes zusammenbrechen, sondern auch jedwede moderne Moral, die versucht wird, zurückgehend auf die autonome Vernunft des Menschen zu begründen. Denn auch die autonome Vernunft existiert nur dank der in ihr fortlebenden Reminiszenz an den Gott der Philosophen. Es geht also nicht nur um den Tod des Gottes der Philosophen, sondern um das Einreißen von Götterbildern, auf denen die gesamte westliche Zivilisation basiert; und nicht zuletzt, ganz im Gegenteil, um die Wiederbelebung einer Zivilisation – die islamische Zivilisation –, die es über Jahrhunderte hinweg vermochte, sowohl ein Rechts- als auch ein darin immanentes Moralsystem zu etablieren, das historisch betrachtet aufgrund defizitärer Zustände zwar nicht immer vor Krisen gefeit war, das aber doch ein allumfassendes, in sich stimmiges und auf göttlicher Offenbarung beruhendes Gesamtgefüge darstellte.

Fazit: Wir sind eingestiegen mit der Offenlegung der Schattenseiten der positiven Wissenschaft. Anhand dieser konnten wir feststellen, dass sich die performative Dimension der positiven Wissenschaft keineswegs als ein weltanschaulich neutrales Unterfangen schmücken kann; ganz im Gegenteil hat sich die von ihr produzierte Form des Wissens im Zuge der seins- und erkenntnistheoretischen Revolution der Neuzeit vor allem auf Basis des Festhaltens an den wesentlichen Prinzipien der aristotelischen Wissenschaftstheorie konstituiert. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die positive Wissenschaft entgegen der von ihr behaupteten Voraussetzungslosigkeit angewandte Metaphysik. Durch die unter der neuzeitlichen Hegemonie der Philosophie der Subjektivität stehende Neuausrichtung kam es allerdings zu allerlei Inkohärenzen, sodass das aus einem spezifischen Zusammenspiel von Mensch, Gott und Welt bestehende und in sich geschlossene Weltbild der Griechen nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Gerade die Kombination aus dem reaktionären Überziehen des Gewandes der Metaphysik und der neuzeitlichen Neuausrichtung im Sinne der Zentralisierung des menschlichen Subjektes führte zu diesen Unstimmigkeiten. Konsequenz war der allmählich eintretende Zusammenbruch der klassischen Metaphysik – in Nietzsches Worten: der Tod Gottes. Da jedoch die gesamte westliche Zivilisation, sowohl die westliche Vernunft- als auch Moralvorstellung, von diesem Gott – dem Gott der Philosophen – zusammengehalten wurde, bedeutete der von Nietzsche prophezeite Zusammenbruch der Metaphysik den Eintritt in ein durch den Nihilismus bestimmtes Zeitalter, der in der heutigen Zeit allgegenwärtig erscheint. So kommen der positiven Wissenschaft mehrere zwiespältige Rollen gleichzeitig zu: Durch ihr Festhalten am Schatten des Gottes der Philosophen brachte sie Konsequenzen mit sich, die im Widerspruch zu auf dem menschlichen Selbstverständnis beruhenden Auffassungen von individueller, zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher und zivilisatorischer Natur stehen, zum anderen spielte sie die Rolle des Totengräbers des Gottes der Philosophen selbst, was wiederum gerade den Raum dafür schaffte, die unter dem Schlagwörtern „Gott der Offenbarung“ und „ islamische Zivilisation“ zusammengefasste sich historisch bereits bewährte islamische Alternative ins Spiel zu bringen.