Kommentar Das Fasten: Eine Revolte gegen die Moderne

Der ehemalige tunesische Präsident Habib Bourguiba, der Tunesien fast drei Jahrzehnte lang regierte, ist nur eines der Beispiele für den westlichen Einfluss. An diesem Beispiel können wir sehen, wie die moderne liberale Ordnung in der muslimischen Welt vorgedrungen ist. Im Jahr 1960 erklärte Habib Bourguiba, das Fasten im Ramaḍān würde die wirtschaftliche Produktivität im Land behindern. Um seine Säkularisierungsbemühungen zu untermauern, wandte er sich an Muhammad bin Ashur, einen angesehenen Gelehrten der damaligen Zeit.

Der ehemalige tunesische Präsident Habib Bourguiba, der Tunesien fast drei Jahrzehnte lang regierte, ist nur eines der Beispiele für den westlichen Einfluss. An diesem Beispiel können wir sehen, wie die moderne liberale Ordnung in der muslimischen Welt vorgedrungen ist. Im Jahr 1960 erklärte Habib Bourguiba, das Fasten im Ramaḍān würde die wirtschaftliche Produktivität im Land behindern. Um seine Säkularisierungsbemühungen zu untermauern, wandte er sich an Muhammad bin Ashur, einen angesehenen Gelehrten der damaligen Zeit. Dieser sollte eine geeignete Fatwa erlassen, um die Abschaffung dieses Brauchs zu rechtfertigen. Tatsächlich meldete sich bin Ashur im öffentlichen Rundfunk zu Wort, allerdings sagte er wider Erwarten:

﴿كُتِبَ عَلَيْكُمُ الصِّيَامُ

Euch ist das Fasten vorgeschrieben worden.[2:183]

Er fügte hinzu: Allah hat die Wahrheit gesprochen und Bourguiba hat die Unwahrheit gesagt.[1].

Dadurch war ein Konflikt zwischen dem angesehenen Gelehrten bin Ashur und dem säkularen Herrscher Habib Bourguiba, der sich selbst als elitär erachtete, entbrannt. Dieser Konflikt wurde aber auch zu einem illustren Beispiel für die Herausforderungen, die sich für eine moderne Verfassung ergeben, wenn sie auf traditionelle Praktiken wie das Fasten trifft. An diesen Vorfall zurückerinnernd stellt sich mir die Frage: Wie können wir die Praxis des Fastens im Zeitalter der Hegemonie des Liberalismus verstehen? Immerhin stellt das Fasten eine Handlung dar, die scheinbar im Widerspruch zur Logik der wirtschaftlichen Produktivität und des Fortschritts steht.

Es sei darauf hinweisen, dass es sich beim Fasten um keinen privaten liturgischen Akt handelt. Versteht man nämlich das Wesen dieser Pflicht richtig, handelt es sich dabei um einen transformativen Prozess. So bewirkt das Fasten eine Neuausrichtung und Kultivierung des „Selbst“ und gipfelt in einer höheren Ebene der Gottesfurcht (taqwā).

﴿يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا كُتِبَ عَلَيْكُمُ الصِّيَامُ كَمَا كُتِبَ عَلَى الَّذِينَ مِن قَبْلِكُمْ لَعَلَّكُمْ تَتَّقُونَ

Ihr, die ihr glaubt! Vorgeschrieben ist euch das Fasten, wie es denjenigen vor euch vorgeschrieben war, auf dass ihr gottesfürchtig werden möget.[2:183]

Demnach ist das Fasten ein Mittel, um ein grandioses Ziel zu erreichen. Obendrein stellt es auch eine Revolte gegen das moderne Menschenbild dar und präsentiert der Welt einen grundlegend anderen Menschen. Während die Moderne den Homo oeconomicus (den Wirtschaftsmenschen) verklärt, bringt das Fasten den Homo islamicus (den islamischen Menschen) hervor. Durch den bewussten Verzicht auf Nahrung und gewisse andere Genüsse wird sich der Mensch seiner eigenen Natur bewusst. Dadurch erkennt er seine Bedürftigkeit und muss sich unweigerlich seine eigenen Grenzen eingestehen.

Wenn muslimische Apologeten von der liberalen Orthodoxie bedrängt werden, neigen sie oftmals dazu, das Fasten mit einer Art Befreiung gleichzusetzen. Euphemistisch sprechen sie von der „Befreiung des Selbst“, wodurch sie dem selbsterklärten Wunsch des Liberalismus entsprechen. Immerhin besteht die oberste Maxime des Liberalismus darin, das Individuum zu befreien, um völlige individuelle Autonomie zu erlangen. Dabei ist der Wunsch nach „Befreiung“ kein ausschließlich modernes Konzept. Bereits in der politischen Philosophie der griechischen und römischen Antike beruhte die Befreiung auf der „Kultivierung der Tugend und der Selbstbeherrschung als den wichtigsten Korrektiven gegenüber der tyrannischen Versuchung“. Diese Vorstellung umfasste Tugenden wie „Besonnenheit, Klugheit, Mäßigung und Gerechtigkeit“ durch Gewöhnung an „Gesetze und Sitten“.[3] Der Liberalismus hat jedoch eine andere Vorstellung von „Freiheit“, denn er „lehnte das Erfordernis der menschlichen Selbstbeschränkung ab. Zunächst verdrängte er die Idee einer natürlichen Ordnung, der die Menschheit unterworfen ist, und später die Vorstellung von der menschlichen Natur selbst“[4]. Freiheit wurde demnach zu der Fähigkeit, nach den eigenen Wünschen zu handeln, ohne dabei von Autoritäten, die außerhalb des „vergöttlichten Individuums“ stehen, eingeschränkt zu werden.

Folglich erkennt der Apologet nicht, dass der Liberalismus in seiner Theorie und Praxis nur die Manifestation eines ständigen Kampfes ist. Die Kontrahenten in diesem Kampf sind einerseits ein selbstreflektierendes Ego (nafs), das sich seiner Unvollkommenheit und Begrenztheit bewusst ist, und andererseits ein sich selbst täuschendes und überschäumendes Ego (nafs), das sich mit seiner Begrenztheit nicht abfinden kann und sich selbst zum Absoluten erklärt. Das Fasten ist eine Erinnerung daran, dass der Homo islamicus keine Erweiterung seiner Begierde ist. Gleichzeitig werden wir aber auch daran erinnert, dass wir an diese Grenzen gebunden sind. Somit dient das Fasten als eine Erinnerung an unsere eigene Begrenztheit. Während der Liberalismus die individuelle Autonomie feiert, kann man zum Schluss kommen, dass der Islam einen völlig entgegengesetzten Standpunkt vertritt. Aus dem koranischen Narrativ lässt sich nämlich schließen, dass die absolute Autonomie das ursprüngliche Merkmal des ṭāġūt ist. Hierbei handelt es um ein Wesen, dessen Autonomie auf einen Exzess hinausläuft, d. h. auf eine maßlose Übertretung einer göttlich verordneten natürlichen Ordnung.

﴿كَلَّا إِنَّ الْإِنْسَانَ لَيَطْغَى. أَنْ رَآهُ اسْتَغْنَ

Gewiss, der Mensch überschreitet doch die Grenze, wenn er von sich meint, unbedürftig zu sein.[96:6 – 96:7]

Ohne sich dessen bewusst zu sein, belebt der Apologet nicht nur den Mythos der individuellen Autonomie wieder, sondern schafft auch einen neuen Mythos: Fasten als individuelle Befreiung. Das im Koran vorgeschriebene Fasten zielt allerdings weder darauf ab, die individuelle Autonomie zu verwirklichen bzw. zu kultivieren noch die eigene potenzielle Autonomie zu realisieren. Vielmehr soll das exakte Gegenteil erreicht werden. Das Fasten soll das Individuum dazu bewegen, eine solche Autonomie abzulehnen. Und wodurch könnte man das Eigeninteresse eher ablehnen als durch die Abstinenz von Nahrung und Genüssen? Das säkulare Zeitalter ist durch die Aushebelung des „Heiligen“ durch das „Weltliche“ gekennzeichnet. Der Fokus wird ausschließlich auf das „Irdische“ gelenkt. Dagegen stellt das Fasten die Aushebelung des offensichtlichsten und grundlegendsten irdischen Merkmals dar: des Körperlichen. Doch obwohl das Fasten zum Verzicht anspornt, muss dies nicht unbedingt bedeuten, dass es sich hierbei um keinen Akt der Befreiung handelt. Das Fasten kann durchaus eine Form der Befreiung sein, deren Ziel sich jedoch grundlegend von dem des Liberalismus unterscheidet. Denn der Muslim versteht das Fasten als geeignetes Mittel, um sich der eigenen Grenzen bewusst zu werden und nicht, um dadurch seinen Individualismus zu bekräftigen.

Der Ramaḍān ist zudem auch der „Monat des Koran“. Alljährlich werden die Gläubigen daran erinnert, dass die ersten Verse des Koran in diesem Monat offenbart wurden und seine Offenbarung göttlichen Ursprungs ist. Diese wiederkehrende Erkenntnis stellt das moderne Engagement für eine „eigennützige“ und unbegrenzte Rationalität in Frage. Durch die Offenbarung des Koran erhält die Menschheit Zugang zum offenkundigen Willen Gottes. Dadurch wird das Streben nach unbegrenzter Rationalität, die von der göttlichen Führung losgelöst ist, zu einem Verstoß gegen die eigenen, wahren Interessen. Im Fastenmonat wird neben der Begrenztheit unseres Egos (nafs) auch die Begrenztheit unseres Intellekts deutlich.

Folglich stellt der Ramaḍān eine radikale Revolte gegen den Homo oeconomicus und somit gegen die modernen Verhältnisse dar. Der Begriff „radikal“ wurde an dieser Stelle bewusst gewählt. Immerhin verkörpert das Fasten nicht nur eine Revolte gegen eine einzelne Ausprägung des modernen Zustands, wie etwa den Konsumismus, den Hedonismus oder die Fetischisierung des Kapitals. Diese Ausprägungen sind nur Symptome einer Weltanschauung, die den Menschen als Homo oeconomicus betrachtet. Indem wir fasten, begehen wir bewusst einen Akt des Ungehorsams gegen eine liberale Ordnung. Wir verwehren uns der Vorstellung von einer „heiligen“ Autonomie des Individuums, einer Vergötterung des „Selbst“ – des „Ich“ (bzw. nafs). Indem wir auf jenes verzichten, was Aristoteles als die beiden elementarsten Begierden des Menschen bezeichnete, nämlich Nahrung und Geschlechtsverkehr, erlangen wir ein höheres Gottesbewusstsein. Dies erinnert uns wiederum daran, dass die absolute Autonomie nur dem Schöpfer gebührt. Auf diese Weise werden wir uns schließlich der eigenen Unvollkommenheit bewusst.

In einer Epoche, die vom „Gott des Kapitals“ und der liberalen Hegemonie geprägt ist, bewirkt das Fasten als kollektive und globale Praxis etwas Besonderes: Es ist Ausdruck eines massenhaften Dissenses. Wir leben in einem Zeitalter, das durch den Rückzug des Liberalismus und das Wiederaufleben post-liberaler Visionen gekennzeichnet ist. Heutzutage hängt die Relevanz der Muslime von unserer Fähigkeit ab, den Islam als eine Gegenerzählung zum Status-quo anzubieten. Diese befreiende Weltanschauung und Bewegung besitzt nämlich das Potential, zu einer gewaltigen Herausforderung für die liberale Theologie und die Exzesse des modernen Zustands zu werden. Der Ramaḍān kann der Ausgangspunkt dafür sein.

Quellen:

[1] Brown, Jonathan A.C. (2014). Misquoting Muhammad: The Challenge and Choices of Interpreting the Prophet’s Legacy. Oneworld Publications. S. 279

[2] Koran (2:183)

[3] Deneen, P. J. (2018). Why Liberalism Failed. New Haven: Yale University Press. S. 22

[4] Deneen, 2018, S. 35

[5] Koran (96:6-7)