Der Konsens der Prophetengefährten (Idschma‘ us-Sahaba) stellt einen islamrechtlichen Beweis dar, d. h. eine Rechtsquelle, auf die sich die islamische Rechtswissenschaft stützt.
Es handelt sich nicht nur um einen ergänzenden Rechtsbeweis zu den anderen Rechtsbeweisen, sondern stellt neben Koran, Sunna und Qiyas (Analogieschluss) eine eigenständige Rechtsquelle dar. Der Konsens der Sahaba ist somit eine der vier Rechtsquellen des islamischen Rechts.
Mit Idschma‘ (Konsens) ist die übereinstimmende Meinung der Gesamtheit der Gefährten des Propheten (s) zu einer Angelegenheit gemeint, ohne dass ein Prophetengefährte Widerspruch eingelegt hätte oder die Sahaba über diese Angelegenheit diskutiert oder abgestimmt hätten. Der Konsens der Sahaba legt einen verborgenen Beweis offen, von dem sie durch ihre ständige Nähe zum Propheten (s) und dessen Begleitung Kenntnis haben. Das heißt, es handelt sich nicht um ihre persönliche Meinung, sondern um einen auf den Propheten zurückgehenden Beweis, der durch die Übereinstimmung aller Prophetengefährten in einer Angelegenheit zum Ausdruck kommt.
Nur der Idschma‘ us-Sahaba gilt als islamische Rechtsquelle, nicht aber der Idschma‘ der Rechtsgelehrten. Der Konsens der Rechtsgelehrten bezüglich eines islamischen Gesetzes stellt etwas völlig anderes dar, denn die Rechtsgelehrten berufen sich hierbei auf einen islamischen Beweis. Dieser Beweis ist allen zugänglich, d. h., sie legen keinen neuen Beweis offen, sondern beziehen sich auf einen bereits bekannten Dalil (Beweis). So ist ein Mudschtahid (Rechtsableiter) nicht an den Konsens der Rechtsgelehrten gebunden. Er kann auf der Grundlage desselben Dalil seinen eigenen Idschtihad (Gesetzesableitung) vornehmen und zu einem anderen Resultat kommen als die anderen Rechtsgelehrten. Das heißt, seine Rechtsmeinung muss nicht mit dem Konsens der Rechtsgelehrten übereinstimmen. Er kann also in derselben Angelegenheit eine von anderen Rechtgelehrten abweichende Rechtsmeinung vertreten.
Im Gegensatz dazu kann der Mudschtahid jedoch nicht sagen, er sei zu einem anderen Ergebnis gekommen als der Idschma‘ us-Sahaba, denn der Idschma‘ us-Sahaba ist ein Dalil und keine Rechtsmeinung. Er ist ein Rechtsbeweis, auf den sich eine Rechtsmeinung stützten kann. Islamisch unverbindlich ist hingegen der Konsens der Rechtsgelehrten oder aber der Konsens der Umma, weil weder die Rechtsgelehrten von heute noch die Muslime der Gegenwart mit dem Propheten (s) in persönlichem Kontakt standen, um von ihm eine Information erhalten haben zu können, die sie durch ihren Konsens offen legen könnten. Der Konsens bezieht sich ausschließlich auf die Sahaba, die den Propheten (s) über Jahre hinweg begleitet und mit ihm die Verbreitung des Islam vorangetrieben haben.
Ein anschauliches Beispiel für den Idschma‘ us-Sahaba ist die auf drei Tage festgelegte Frist für die Aufstellung eines neuen Kalifen, wenn der alte Kalif aus seinem Amt ausgeschieden ist. Weder der Koran noch die Sunna weisen auf diese Frist hin. Sie geht ausschließlich aus dem Handeln der Sahaba hervor. Als Umar (r), der zweite rechtgeleitete Kalifen, niedergestochen wurde, baten ihn die Muslime darum, einen Nachfolger für sich zu bestimmen. Nachdem er dies zunächst ablehnte, bestimmte er sechs Männer, die innerhalb der Frist von drei Tagen aus ihrem Kreis einen Kalifen festlegen sollten.
Umar (r) befahl die Tötung desjenigen, der sich, wenn fünf sich auf einen Mann geeinigt haben, dagegenstellt, sollte die Frist dadurch überschritten werden. Trotz dieser radikalen Maßnahme Umars wurde dieser von keinem Prophetengefährten in dieser Angelegenheit kritisiert. Sie schwiegen dazu, obwohl Umar (r) mit der Tötung eines Gefährten drohte, sollte die Frist überschritten werden, weil alle Gefährten wussten, dass die maximale Zeitspanne von drei Tagen für die Aufstellung eines Kalifen islamisch vorgeschrieben ist.
Es herrschte bei den Sahaba Einigkeit darüber, weil es sich nicht um eine von Umar (r) festgelegte Frist handelte, sondern um eine von Allah (t) bestimmte Zeitspanne, von der die Sahaba durch den Propheten (s) Kenntnis hatten. Ihr geschlossenes Schweigen zu dem Vorgehen Umars stellt einen Idschma‘ dar. Darüber hinaus ging man, nachdem auch Uthman (r), der dritte rechtgeleitete Kalif, ermordet wurde, zu Ali (r), auf den sich die Muslime als Nachfolger Uthmans geeinigt hatten, und teilte ihm mit, dass er das Kalifenamt nun annehmen müsse, weil die Frist von drei Tagen beendet sei.
Niemand wunderte sich über dieses Verhalten der Sahaba. Selbst unter späteren Generationen kam kein Erstaunen und auch keine Diskussion auf, weshalb beispielsweise Umar (r) in dieser Situation so handelte. Denn die Muslime wussten, dass es sich in diesem Fall um einen Konsens der Sahaba zu einer Angelegenheit handelt, über die die Prophetengefährten durch den Gesandten Allahs (s) unterrichtet waren. Durch ihre Nähe zum Propheten (s) wussten sie davon, d. h, der Beweis, der durch den Idschma‘ us-Sahaba offen gelegt wird, geht immer auf den Propheten (s) selbst zurück. Die Sahaba hatten von diesem Beweis Kenntnis und teilten ihn uns durch ihren Konsens mit.
Somit stellt der Idschma‘ us-Sahaba einen vollwertigen Beweis in der islamischen Rechtswissenschaft dar. Der Beweis, der durch den Konsens der Sahaba offen gelegt wird, hat als islamische Rechtsquelle den gleichen Rang wie der Koran und die Hadithe. Ein islamisches Gesetz kann sich ausschließlich auf den Idschma‘ us-Sahaba stützen, ohne dass noch ein Beweis aus Koran oder Sunna notwendig wäre, wie etwa im Falle der Frist von drei Tagen für die Aufstellung eines Kalifen. Auf diesen Aspekt der drei Tage gehen weder Koran noch Sunna ein. Der Idschma‘ us-Sahaba dient hierbei als einzige Beweisquelle, ohne dass das daraus resultierende Gesetz in irgendeiner Form islamisch anfechtbar wäre. Genauso reicht ein einziger Koranvers aus, um beispielsweise die Pflicht des Gebets zu beweisen. Daher darf die islamische Rechtswissenschaft den Idschma‘ us-Sahaba als islamische Rechtsquelle nicht ausblenden, denn sie muss alle Beweisquellen einbeziehen, wenn sie die richtige Methode zur Gesetzesableitung anwenden will.
Der Gesandte Allahs (s) hat in einem Hadith darauf hingewiesen, dass seine Sahaba über jeden Zweifel erhaben sind, als er sagte:
„Meine Gefährten (Sahaba) sind wie die Sterne. Wem immer ihr nacheifert, so werdet ihr Rechtleitung erlangen.“
Wenn also das Nacheifern eines einzelnen Prophetengefährten bereits zur Rechtleitung führt, so erst recht das Nacheifern aller Sahaba. Denn der Idschma‘ us-Sahaba stellt den Konsens der Gesamtheit der Gefährten des Propheten in einer Angelegenheit dar und ist nicht nur der Konsens einer Mehrheit der Sahaba. Der Idschma‘ us-Sahaba legt somit einen sicheren islamischen Beweis offen.
Auch werden die Sahaba im Koran in ihrer Gesamtheit als rechtgeleitet gelobt. In Sure Al-Fath 48, Vers 29 heißt es z. B.:
﴿مُّحَمَّدٌ رَّسُولُ ٱللَّهِ ۚ وَٱلَّذِينَ مَعَهُۥٓ أَشِدَّآءُ عَلَى ٱلْكُفَّارِ رُحَمَآءُ بَيْنَهُمْ ۖ تَرَىٰهُمْ رُكَّعًا سُجَّدًا يَبْتَغُونَ فَضْلًا مِّنَ ٱللَّهِ وَرِضْوَٰنًا ۖ ﴾
„Muhammad, der Gesandte Allahs, und diejenigen, die mit ihm sind. Sie sind hart gegen die Ungläubigen, doch barmherzig zueinander. Du siehst sie sich (im Gebet) beugen, niederwerfen und Allahs Huld und Wohlgefallen erstreben.“[48:29]
Auch sagt der Erhabene:
﴿فَٱلَّذِينَ ءَامَنُوا۟ بِهِۦ وَعَزَّرُوهُ وَنَصَرُوهُ وَٱتَّبَعُوا۟ ٱلنُّورَ ٱلَّذِىٓ أُنزِلَ مَعَهُۥٓ ۙ أُو۟لَـٰٓئِكَ هُمُ ٱلْمُفْلِحُونَ﴾
„Diejenigen also, die an ihn (den Propheten) glauben, ihn stärken, ihm helfen und dem Licht folgen, das mit ihm herabgesandt wurde, dies sind die Erfolgreichen.“[7:157]
Und Er sagt:
﴿لَـٰكِنِ ٱلرَّسُولُ وَٱلَّذِينَ ءَامَنُوا۟ مَعَهُۥ جَـٰهَدُوا۟ بِأَمْوَٰلِهِمْ وَأَنفُسِهِمْ ۚ وَأُو۟لَـٰٓئِكَ لَهُمُ ٱلْخَيْرَٰتُ ۖ وَأُو۟لَـٰٓئِكَ هُمُ ٱلْمُفْلِحُونَ﴾
„Jedoch der Gesandte und die Gläubigen mit ihm, die mit ihrem Gut und mit ihrem Blut kämpfen, sind es, denen Gutes zuteil werden soll; und sie sind es, die Erfolg haben werden.“[9:88]
Das Attribut der Rechtleitung und des Erfolgs würde nicht zutreffen, wenn sie in ihrer Gesamtheit in die Irre gehen oder sich auf etwas Falsches einigen könnten. Somit muss ihr Konsens, d. h. ihre Übereinstimmung in einer Angelegenheit, richtig sein und dem islamischen Rechtsspruch entsprechen. Ihr gemeinschaftlicher Irrtum wäre ausgeschlossen, weil er der Aussage des Koran widersprechen würde.
Auch waren es die Sahaba, die uns – ebenfalls durch ihren Idschma‘ – den Koran und den Islam übermittelt haben. Würde man die Richtigkeit ihres Idschma‘ in Frage stellen, so bedeutete dies, dass man auch die Richtigkeit des durch sie übermittelten Koran in Frage stellen könnte. Dies ist aber ausgeschlossen, da der göttliche Ursprung des Koran rational erwiesen ist und Allah selbst die Richtigkeit und Unveränderlichkeit des Koran an mehreren Stellen bestätigt. So sagt Er z. B.:
﴿لَّا يَأْتِيهِ ٱلْبَـٰطِلُ مِنۢ بَيْنِ يَدَيْهِ وَلَا مِنْ خَلْفِهِۦ ۖ تَنزِيلٌ مِّنْ حَكِيمٍ حَمِيدٍ﴾
„Falschheit kann nicht an ihn (den Koran) herankommen, weder von vorn noch von hinten. Es ist eine Offenbarung von einem Allweisen, des Lobes Würdigen.“[41:42]
Da die Richtigkeit des Koran und seine Unveränderbarkeit feststehen, muss auch sein Übermittlungsweg, nämlich der Idschma‘ us-Sahaba, richtig und über jeden Zweifel erhaben sein. Demzufolge steht die Richtigkeit des Konsens‘ der Prophetengefährten mit klarem Beweis fest. Ihr Idschma‘ kann somit als Beweisquelle für islamische Rechtssprüche herangezogen werden.