Aus dem Buch: „Die islamische Persönlichkeit Teil 1“
Im Namen Allahs Des Erbarmungsvollen Des Barmherzigen
Die Persönlichkeit eines jeden Menschen setzt sich aus seiner Denkweise (Aqliyya) und seiner Verhaltensweise (Nafsiyya[1] – Charakterseele) zusammen. Dabei spielen weder sein Aussehen noch sein Körperbau noch sein äußeres Erscheinungsbild oder etwas Anderes eine Rolle. Dies alles sind Äußerlichkeiten. Es wäre oberflächlich zu glauben, dass es sich dabei um Faktoren der Persönlichkeitsbildung handelt oder sie die Persönlichkeit beeinflussen. Denn der Mensch zeichnet sich durch seinen Verstand aus, und es ist sein Verhalten, das auf seine Erhabenheit oder Dekadenz hinweist. Da sich nun das menschliche Verhalten im Leben gemäß seinen Konzeptionen (Mafahim) vollzieht, ist das Verhalten des Menschen unmittelbar und auf untrennbare Weise an seine Konzeptionen gebunden. Das Verhalten (Suluk) wird durch die Handlungen des Menschen verkörpert, die er zur Befriedigung seiner Instinkte bzw. seiner organischen Bedürfnisse vollzieht. Bei der Bedürfnisbefriedigung folgt er unabdingbar seinen diesbezüglichen Neigungen (Muyul), die er in sich trägt. Seine Persönlichkeit wird daher sowohl von seinen Konzeptionen als auch von seinen Neigungen getragen.
Was aber sind diese Konzeptionen (Mafahim)? Woraus setzen sie sich zusammen und was resultiert aus ihnen? Und was sind nun diese Neigungen (Muyul)? Wodurch werden sie verursacht und welche Folgen haben sie? All dies bedarf der Klärung:
Die Konzeptionen (Mafahim) geben die Bedeutungen der Ideen und nicht der Wortbegriffe wieder. Der begriffliche Ausdruck ist ein Wort, welches Bedeutungen wiedergibt, die in der Realität existieren können oder auch nicht. Wenn der Dichter beispielsweise sagt:
„Unter Männern gibt es solche,
wenn du sie zerstören willst,
sind sie härter als der Fels.
Doch schleuderst du ihnen die Wahrheit entgegen,
ziehen sie sich vernichtet aus dem Schlachtfeld zurück“
Diese Bedeutung findet sich in der Realität wieder. Sie ist sinnlich wahrnehmbar, auch wenn deren Wahrnehmung der tiefen und erleuchtenden Betrachtung bedarf. Wenn der Dichter jedoch sagt:
„Sie fragten: „Zwei Reiter durchdringt er mit einem Stich,
am Tage der Schlacht und erachtet es nicht als gewaltig?“
Da antwortete ich ihnen: „Und wenn sein Dolch eine Meile lang wäre,
hätte er die Reiter meilenlang durchdrungen.““
Diese Bedeutung existiert (in der Realität) definitiv nicht. Weder hat der Gepriesene zwei Reiter mit einem Stich durchdrungen noch hat irgendjemand diese Frage gestellt noch können Reiter meilenlang (mit einem Stich) durchdrungen werden. Somit wird die Bedeutung dieser Sätze durch die Erläuterung und Erklärung ihrer Begriffe erhalten. Was jedoch die Bedeutungen der Ideen anbelangt, so gilt Folgendes: Hat die Bedeutung, die der Begriff beinhaltet, eine sinnlich wahrnehmbare Realität oder kann sie sich der Verstand als etwas sinnlich Wahrnehmbares (Greifbares) vorstellen und glaubt er daran, dann stellt diese Bedeutung für denjenigen, der sie sinnlich wahrnehmen oder sich vorstellen kann und daran glaubt, einen Mafhum (Konzeption) dar. Für denjenigen aber, der die Bedeutung nicht sinnlich wahrnehmen und sie sich nicht vorstellen kann, ist diese Bedeutung kein MafhŮm, auch wenn er die Bedeutung des Satzes, der ihm gesagt wurde oder den er gelesen hat, (sprachlich) verstanden hat. Demzufolge ist es für die Person unabdingbar, die Worte intellektuell (d. h. in ihrer realen, wahrnehmbaren Bedeutung) aufzunehmen, egal, ob die Aufnahme visuell oder akustisch erfolgt ist. Das heißt die Person muss die Bedeutungen der Sätze so verstehen, wie die Formulierung es darlegt, und nicht wie der Sprecher bzw. die Person selbst sie gern hätte. Gleichzeitig muss sie mit ihrem Verstand die Realität dieser Bedeutungen derart begreifen, dass sie diese Realität (in ihrer Gestalt) präzise identifiziert. Auf diese Weise werden diese Bedeutungen bei ihr zu festen Konzeptionen (Mafahim). Folglich stellen die Mafahim die Bedeutungen dar, welche in der geistigen Vorstellung eine Realität besitzen, gleichgültig ob es sich um eine Realität handelt, die äußerlich spürbar ist, oder um eine, auf die man sich – gestützt auf eine spürbare Realität – als in der Außenwelt existente Wirklichkeit verlässt. Alles, was es darüber hinaus an Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke und Sätze gibt, wird nicht als Mafhum bezeichnet, sondern ist als bloße Information zu betrachten.
Die Herausbildung der Konzeptionen (Mafhum) erfolgt durch die Verknüpfung der Realität mit den Informationen bzw. der Informationen mit der Realität, wobei sich dieser Prozess gemäß der Grundlage bzw. den Grundlagen herauskristallisiert, an der bzw. an denen Informationen und Realität während des Verknüpfungsprozesses gemessen werden, d. h. gemäß des Erfassens der Realität und der Informationen während der Verknüpfung, also gemäß ihrer rationalen (verstandesmäßigen) Wahrnehmung. Bei der Person entsteht somit eine Denkweise (‚Aqliyya), die die begrifflichen Ausdrücke und Sätze versteht, die Bedeutungen in ihrer genau bezeichneten bzw. identifizierten Wirklichkeit wahrnimmt und so ein Urteil darüber fällt. Demnach ist die Denkweise (‚Aqliyya) die Methode, nach der das Erfassen einer Sache, also ihre verstandesmäßige Wahrnehmung, erfolgt. Anders ausgedrückt ist es die Methode, nach der das Verknüpfen der Realität mit den Informationen bzw. der Informationen mit der Realität erfolgt, indem sie an einer bzw. an bestimmten mehreren Grundlagen gemessen werden. Daraus resultiert die Unterschiedlichkeit der Denkweisen (‚Aqliyyat), wie die islamische, die kommunistische, die kapitalistische, die chaotische oder die monotone Denkweise. Die Resultate dieser Mafahim bestimmen ihrerseits das Verhalten des Menschen gegenüber der wahrgenommenen Realität und bestimmen ebenso die Art der Neigung (Mayl) gegenüber dieser Realität – ob man sich nun zu ihr hin- oder von ihr abwendet. Sie weisen dem Menschen eine spezifische Neigung und einen bestimmten Geschmack zu.
Was die Neigungen (Muyul) betrifft, so sind sie die Triebkraft (Dafi‘), die den Menschen zur Befriedigung der Bedürfnisse bewegt, verknüpft mit seinen Konzeptionen (Mafahim) über die Dinge, welche der Befriedigung dienen sollen. Die Triebkraft wird beim Menschen durch die Lebensenergie, welche ihn zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und Instinkte antreibt und durch den Verknüpfungsprozess zwischen dieser Energie und seinen Konzeptionen verursacht.
Es sind allein diese Neigungen (Muyul), also die mit den Konzeptionen über das Leben verknüpfte Triebkraft, die die Nafsiyya des Menschen bilden. Die Nafsiyya ist die Methode, nach der die Befriedigung der Instinkte und organischen Bedürfnisse erfolgt. Anders ausgedrückt ist es die Methode, nach der die Triebkraft zur Befriedigung mit den Mafahim verknüpft wird. Sie ist also eine Zusammensetzung aus der natürlich ablaufenden unabdingbaren Verbindung, die sich im Innern des Menschen zwischen seiner Triebkraft und seinen Konzeptionen über die Dinge abspielt, verknüpft mit seinen Konzeptionen über das Leben.
Aus dieser Denkweise (Aqliyya) und dieser Handlungsweise (Nafsiyya) setzt sich demnach die Persönlichkeit (Šahsiyya) zusammen. Auch wenn der Verstand bzw. das rationale Begreifen dem Menschen angeboren ist und in jedem Menschen notwendigerweise existiert, so formt sich die Denkweise dennoch durch die Einwirkung des Menschen aus. Und auch wenn die Neigungen dem Menschen angeboren sind und in jedem Menschen unabdingbar existieren, so entsteht die Nafsiyya durch das Eingreifen des Menschen selbst. Durch die Tatsache, dass aufgrund der Existenz einer bzw. mehrer Grundlagen, anhand derer sowohl die Informationen als auch die Realität während des Verknüpfungsprozesses gemessen werden, sich die Bedeutung (irgendeiner Aussage) zu einer Konzeption herauskristallisiert, und durch die Tatsache, dass die Verschmelzung zwischen Triebkraft und Konzeptionen zur Herauskristallisierung der Neigung aus der Triebkraft führt, kommt dieser Grundlage bzw. diesen Grundlagen, auf deren Basis der Mensch die Informationen und die Realität während der Verknüpfung misst, die größte Rolle bei der Herausbildung der Denkweise und der Handlungsweise zu. Das heißt, der spezifische Aufbau einer Persönlichkeit wird durch diese Grundlage bzw. Grundlagen am stärksten beeinflusst. Handelt es sich bei dem Fundament bzw. den Fundamenten, auf deren Grundlage die Bildung der Denkweise (‚Aqliyya) erfolgt, um genau dieselben, denen auch die Bildung der Handlungsweise (Nafsiyya) zugrunde liegt, so entsteht aus dem Menschen eine spezifische, hervorstechende Persönlichkeit. Unterscheiden sich jedoch die Grundlagen auf deren Basis sich Denk- und Handlungsweise herausbilden, so ist die Denkweise des Menschen von seiner Handlungsweise verschieden. In diesem Fall misst er nämlich seine Neigungen auf einer Grundlage, die sich in seinem tiefsten Inneren befindet, so dass er seine Triebkraft mit anderen Konzeptionen verknüpft als die, durch die sich seine Denkweise herausgebildet hat. Somit wird er zu einer ungleichförmigen, widersprüchlichen Persönlichkeit ohne charakteristisches Spezifikum. Seine Ideen entsprechen nicht seinen Neigungen, da er die Ausdrücke und Sätze auf eine Weise versteht und die Realität in einer Form wahrnimmt, die nicht mit seinen Neigungen zu den Dingen im Einklang steht.
Dementsprechend bestehen Korrektur und Aufbau einer Persönlichkeit darin, eine für Denk- und Handlungsweise gleiche Grundlage zu schaffen. Das heißt, das Fundament, auf dessen Grundlage Informationen und Realität während der Verknüpfung gemessen werden, muss das gleiche Fundament sein, auf dessen Grundlage die Verbindung zwischen Triebkraft und Konzeption erfolgen. Dadurch wird die Persönlichkeit auf Basis einer Grundlage und nach einem Maßstab aufgebaut, woraus sich eine charakteristische Persönlichkeit entwickelt.
[1] Der Begriff Nafsiyya leitet sich aus dem arabischen Wort Nafs ab, was Seele, Geist bzw. menschliches Innere bedeutet. Mit Nafsiyya ist die innere Einstellung des Menschen gemeint, seine „Charakterseele“, die sich ja in seinem Verhalten äußert. Deswegen wurde das Wort Nafsiyya zumeist mit Verhaltensweise übersetzt, weil es der später folgenden Definition am ehesten entspricht. Wie so oft trifft das deutsche Wort den arabischen Begriff aber nicht wirklich und liefert nicht immer ein befriedigendes Übersetzungsergebnis. Deswegen erlaubt sich der Übersetzer für den Begriff Nafsiyya an manchen (passenden) Stellen das Wort Charakterseele zu verwenden, was der wörtlichen Bedeutung des arabischen Begriffes am nächsten kommt. Auf alle Fälle handelt es sich sowohl beim arabischen als auch beim deutschen Begriff um einen so genannten Terminus Technicus, der einer entsprechenden Definition bedarf, um dem Leser ein klares Verständnis zu vermitteln.
Die Persönlichkeit eines jeden Menschen setzt sich aus seiner Denkweise (Aqliyya) und seiner Verhaltensweise (Nafsiyya[1] – Charakterseele) zusammen. Dabei spielen weder sein Aussehen noch sein Körperbau noch sein äußeres Erscheinungsbild oder etwas Anderes eine Rolle.