Grundlagen 9. Wie die Frage von „Al-Qada wa Al-Qadar“ (Schicksal und Bestimmung) entstanden ist

Exkludieren wir die Frage des Begehers der Kapitalsünde, wegen der Wasil Ibn Ata‘, der Führer der Mu’tazila, den Lehrkreis des Hassan Al-Basriy verließ, finden wir kaum eine Frage der Scholastik, die in ihrem Ursprung nicht bereits von den griechischen Philosophen untersucht worden war.

Aus dem Buch „Die islamische Persönlichkeit Teil 1“
Exkludieren wir die Frage des Begehers der Kapitalsünde, wegen der Wasil Ibn Ata‘, der Führer der Mu’tazila, den Lehrkreis des Hassan Al-Basriy verließ, finden wir kaum eine Frage der Scholastik, die in ihrem Ursprung nicht bereits von den griechischen Philosophen untersucht worden war. Die Frage von „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ (Schicksal und Bestimmung), in dieser Bezeichnung und mit diesem von ihnen untersuchten Inhalt, wurde bereits von den Philosophen Griechenlands erörtert und bildete eine Streitfrage unter ihnen.
Diese Frage wird als „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“, als „Zwang und freie Wahl“ oder auch als „Willensfreiheit“ bezeichnet. In all diesen Bezeichnungen hat sie ein und denselben Inhalt nämlich: Ist der Mensch frei die von ihm ausgehenden Handlungen zu begehen bzw. nicht zu begehen oder ist er gezwungen dazu? Vor der Übersetzung der griechischen Philosophie kam es den Muslimen nie in den Sinn, diese Frage zu untersuchen. Vielmehr waren es die griechischen Philosophen, die sich mit dieser Frage beschäftigt hatten und diesbezüglich unterschiedlicher Meinung waren. So waren die Epikureer der Ansicht, dass der Wille frei wählen könne und dass der Mensch all seine Taten in freiem Willen und freier Wahl ausführe, ohne irgendeinem Zwang zu unterliegen. Die Deterministen unter den Stoikern vertraten hingegen die Meinung, dass der Wille gezwungen sei, einen bestimmten Weg einzuschlagen und diesen nicht verlassen könne. Der Mensch vermag nichts nach seinem eigenen Willen zu tun, vielmehr ist er zur Handlung gezwungen und besitzt nicht die Freiheit, etwas tun oder zu lassen. Als der Islam kam und die philosophischen Ideen sich einschlichen, gehörte die Frage nach der Gerechtigkeitseigenschaft Allahs zu den wichtigsten Erörterungen. Sie stellten fest, dass Allah gerecht sei. Als Folge dieser Gerechtigkeit ergab sich die Frage nach Belohnung und Bestrafung. Daraus ergab sich wiederum die Frage nach dem Vollzug der Handlungen durch den Menschen. So führte sie die Untersuchungsmethode, der sie folgten, von der Untersuchung einer Frage zur Untersuchung der sich daraus ergebenden Zweigfragen, was stets unter dem Einfluss der Erörterungen griechischer Philosophen geschah. Mit anderen Worten geschah es unter dem Einfluss der von ihnen untersuchten philosophischen Ideen, die mit den von ihnen behandelten Fragen verknüpft waren. Am hervorstechendsten dabei war die Untersuchung der Mu’tazila, die den Ursprung dieses Diskurses bildete. Die Untersuchungen der anderen Scholastiker waren im Grunde Antworten auf die Mu’tazila.
Deswegen bilden die Mu’tazila den Ursprung in der Frage von „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ wie auch in allen anderen Fragen der Scholastik. Die Mu’tazila betrachteten Allahs Gerechtigkeit unter der Prämisse, dass Er, erhaben sei Er, von jeder Ungerechtigkeit frei sein müsse. Zur Frage von Belohnung und Bestrafung nahmen sie in Folge einen Standpunkt ein, der mit der Makellosigkeit Allahs und Seiner Gerechtigkeit übereinstimmte. So waren sie der Ansicht, dass die Gerechtigkeit Allahs keinen Sinn ergebe, ohne dem Menschen die (volle) Willensfreiheit zuzusprechen, dass nämlich er, der Mensch, seine Taten selbst erschafft und das Vermögen hat, eine Tat zu tun oder nicht zu tun. Wenn er nun mit seinem Willen etwas tut oder nicht tut, ist seine diesbezügliche Belohnung oder Bestrafung auch verständlich und gerecht. Würde aber Allah den Menschen erschaffen und ihn zwingen, eine Handlung auf eine bestimmte Weise zu tun – indem Er den Gehorsamen zur Gehorsamkeit und den Ungehorsamen zur Ungehorsamkeit nötigte, um den einen anschließend zu belohnen und den anderen zu bestrafen – so wäre das bar jeder Gerechtigkeit. Auf diese Weise haben sie vom Wahrnehmbaren auf das Nichtwahrnehmbare eine Analogie gezogen und Allah, den Erhabenen, mit menschlichem Maßstab bemessen. Sie haben Allah, den Erhabenen, den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt unterworfen, und zwar in gleicher Weise, wie es die griechischen Philosophen getan haben. Sie zwangen Allah die Gerechtigkeit in der Form auf, wie sich der Mensch diese vorstellt. Der Ursprung der Untersuchung war die Belohnung und Bestrafung seitens Allahs für die Handlungen des Menschen. Dies stellte das Untersuchungsthema dar, das als „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“, als „Zwang und freie Wahl“ oder als „Willensfreiheit“ bezeichnet wurde. In ihren Untersuchungen schlugen sie den Weg der griechischen Philosophen ein, sie untersuchten den „Willen“ und die Erschaffung der Taten. Bezüglich des „Willens“ sagten sie Folgendes: „Wir sehen, dass derjenige, der das Gute will, gut ist, und derjenige, der das Schlechte will, schlecht ist. Wer Gerechtigkeit will, ist gerecht, und wer Ungerechtigkeit will, ist ungerecht. Wenn nun der Wille Allahs mit allem, was in der Welt an Gutem und Schlechtem existiert, verknüpft wäre, dann müsste das Gute und das Schlechte von Allah, dem Erhabenen, gewollt sein. Der Wollende müsste aber mit der Eigenschaft des Guten und des Schlechten bzw. des Gerechten und des Ungerechten attribuiert werden, was im Falle Allahs unmöglich wäre.“ Auch sagten sie: „Wenn Allah den Unglauben des Ungläubigen und die Ungehorsamkeit des Ungehorsamen gewollt hätte, hätte Er ihm den Unglauben und die Ungehorsamkeit nicht untersagt. Wie kann man sich denn vorstellen, dass Allah von Abu Lahab den Unglauben will, ihn anschließend aber zum Glauben aufruft und ihm den Unglauben untersagt? Täte das irgendein Geschöpf, würde man es für töricht erklären. Darüber ist Allah aber vielfach erhaben. Wären der Unglaube des Ungläubigen und die Ungehorsamkeit des Ungehorsamen von Allah gewollt, hätten sie die Bestrafung dafür nicht verdient und ihre Handlung wäre im Grunde die Befolgung Seines Willens…“
In dieser Art setzten sie ihre Beweisführung in logischen Thesen fort. Dem ließen sie Textbelege aus dem Heiligen Koran folgen. So zogen sie folgende Aussage Allahs als Beweis heran:
„Und Allah will keine Ungerechtigkeit gegen die Diener.“ (40:31), ebenso die Aussage Allahs:
„Die Götzendiener werden sagen: ‚Hätte Allah es gewollt, so hätten weder wir noch unsere Väter (Allah) etwas beigesellt; auch hätten wir nichts unerlaubt gemacht.‘ Also leugneten schon jene, die vor ihnen waren.“(6:148), und Seine Aussage
„Sprich: ‚Allah hat den überzeugenden Beweis. Hätte Er es gewollt, so hätte Er euch alle rechtgeleitet.'“(6:149) Auch zogen sie die Aussage Allahs heran:
„Allah will es euch erleichtern und will es euch nicht erschweren.“(2:185), und Seine Aussage:
„Doch findet Er nicht Wohlgefallen am Unglauben Seiner Diener.“(39:7) Jene Ayat hingegen, die ihrer Ansicht widersprachen, wurden von ihnen uminterpretiert. So zum Beispiel die Aussage Allahs:
„Wahrlich, denen, die ungläubig sind, ist es gleich, ob du sie warnst oder nicht warnst, sie glauben nicht.“(2:6), ebenso Seine Aussage:
„Versiegelt hat Allah ihre Herzen und ihr Gehör; und über ihren Augen liegt ein Schleier;“(2:7), und Seine Aussage:
„Doch hat Allah sie ihres Unglaubens willen versiegelt.“(4:155)
Aus all dem schlossen sie auf ihre Meinung, die sie sich aneigneten und zu der sie aufriefen. Es ist dies ihre bekannte Ansicht, dass der Mensch den freien Willen besitzte, eine Handlung zu tun oder nicht zu tun. Tue er sie, so geschehe es mit seinem Willen. Tue er sie nicht, so geschehe es ebenfalls mit seinem Willen. Was die Frage der Erschaffung der Taten anbelangt, so meinten die Mu’tazila, dass die Taten des Menschen von ihm selbst erschaffen worden seien. Es seien Handlungen, die von ihm ausgehen und nicht von Allah. So liege es in seiner Macht, sie zu tun oder nicht zu tun, ohne dass die Macht Allahs irgendeinen Einfluss darauf habe. Beweis dafür sei der Unterschied, den der Mensch bei der willkürlichen und unwillkürlichen Bewegung verspüre. So werde die gewollte Handbewegung (vom Menschen) anders empfunden als die Bewegung des Zitternden, ebenso das Ersteigen eines Leuchtturms anders als das Herabstürzen von ihm. Die willkürliche Bewegung liege folglich in der Macht des Menschen; er sei es, der sie erschafft. Auf die unwillkürliche Bewegung hingegen habe er keinen Einfluss. Auch könne für den Menschen, wäre er nicht der Schöpfer seiner Taten, keine Rechtsfähigkeit gelten. Denn wenn er nicht die Macht hätte, eine Handlung zu tun oder nicht zu tun, wäre es rational unzulässig, ihm zu sagen: „Tue!“ oder „Tue nicht!“. Auch könnte die Handlung dann nicht Gegenstand des Lobes oder des Tadels bzw. der Belohnung oder der Bestrafung sein. Auf diese Art setzten sie die Beweisführung für ihre Ansicht in logischen Thesen fort. Dem ließen sie dann Textbelege aus der Offenbarung folgen und versuchten, ihre Ansicht mit zahlreichen Koranversen zu beweisen. So z. B. mit der Aussage des Erhabenen:
„Doch wehe denen, die das Buch mit ihren eigenen Händen schreiben und dann sagen: ‚Das ist von Allah!'“(2:79), ebenso mit Seiner Aussage:
„Wahrlich, Allah ändert den Zustand eines Volkes nicht, ehe sie selbst nicht ändern, was in ihnen ist.“(13:11), und mit Seiner Aussage:
„Wer Böses tut, dem wird es vergolten werden.“(4:123). Auch zogen sie folgende Aussage heran:
„Heute wird jedem vergolten, was er erworben hat.“(40:17), ebenso die Aussage:
„Er sagt: ,Mein Herr, bringe mich zurück; auf dass ich Gutes tue!'“(23:99-100) Jene Ayat, die ihrer Ansicht widersprachen, wurden von ihnen uminterpretiert. So z. B. die Aussage Allahs:
„Und Allah erschuf euch und das, was ihr tut.“(37:96), ebenso Seine Aussage:
„Allah ist der Schöpfer aller Dinge.“(39:62).
Aus all dem schlossen sie auf ihre Meinung, die sie sich in der Frage der Erschaffung der Taten angeeignet hatten, dass der Mensch nämlich die Taten selbst erschafft und er die Macht hat, eine Handlung zu tun oder nicht zu tun. In Befolgung der Untersuchungsmethode der Scholastiker, eine Frage und alle sich daraus ergebenden Zweigfragen zu erörtern, ergab sich bei ihnen aus der Frage der Taterschaffung die Frage der Tatfolge: Nachdem die Mu’tazila feststellten, dass die Taten des Menschen von ihm selbst erschaffen worden sind, ergab sich daraus folgende Frage: Wie steht es mit den Handlungen, die sich aus seiner Tat ergeben? Sind sie auch vom Menschen erschaffen worden? Oder hat Allah sie erschaffen? Beispiel dafür ist der Schmerz, den der Geschlagene empfindet, der Geschmack, der sich bei einer Sache durch die Tat des Menschen einstellt, der Schnitt, der durch das Messer erfolgt, das Genussgefühl, die Gesundheit, die Erregung, die Temperatur, die Kälte, die Feuchtigkeit, die Trockenheit, die Feigheit, der Mut, der Hunger, das Sättigungsgefühl und Ähnliches. Sie meinten, dies alles sei das Werk des Menschen, denn der Mensch habe diese Dinge hervorgerufen, als er die Tat beging. Sie erfolgten aus der Handlung des Menschen, also seien sie durch ihn erschaffen worden.
Dies ist die Frage von „Al-Qada‘ wa al-Qadar“ (Schicksal und Bestimmung) und dies ist die Meinung der Mu’tazila dazu. Ihr Inhalt ist die Frage nach dem Handlungswillen beim Menschen und was in den Dingen als Folge der menschlichen Handlung als spezifische Eigenschaft hervorgerufen wird. Ihre Meinung besteht darin, dass der Mensch einen freien Willen zu all seinen Taten hat. Er ist es, der sowohl seine Taten erschafft als auch die spezifischen Eigenschaften, die sich als Folge seiner Taten in den Dingen ergeben.
Diese Meinung der Mu’tazila brachte die Muslime in Aufruhr. Es war eine neue, eine anmaßende Meinung für sie, die das erste Fundament des Glaubens betraf: die Aqida. Deswegen preschten sie vor, um den Mu’tazila zu entgegnen. Eine Gruppe, die „Al-Dschabriyya“ genannt wurde und zu deren bekanntesten Vertretern Dschahm Ibn Safwan zählte, erhob sich und sagte: „Der Mensch unterliegt dem Zwang. Er hat weder einen freien Willen noch die Macht, seine Taten zu erschaffen. Er gleicht der Feder im Wind oder dem Holzbrett zwischen den Wellen. Allah erschafft die Taten mit den Händen des Menschen.“ Sie sagten auch: „Wenn wir behaupteten, der Mensch erschaffe seine Taten selbst, so hätte das die Einschränkung der Macht Allahs zur Folge, dass sie nicht alle Dinge umfassen würde. Es bedeutete auch, dass der Mensch Teilhaber Allahs in der Erschaffung dieser Welt wäre. In einem Gegenstand können aber nicht zwei Mächte gemeinsam wirken. Wenn es die Macht Allahs ist, die ihn erschuf, dann hat der Mensch keinen Anteil daran. Ist es jedoch die Macht des Menschen, die ihn erschuf, dann hat die Macht Allahs keinen Anteil daran. Es ist jedoch unmöglich, dass ein Teil dessen durch die Macht Allahs und ein anderer Teil durch die Macht des Menschen entstanden ist. Demzufolge muss es Allah sein, der die Tat des Menschen erschaffen hat, und mit Seinem Willen allein hat der Mensch die Tat vollzogen.“ Die Al-Dschabriyya waren der Ansicht, dass die Handlungen des Menschen allein mit der Macht Allahs geschehen, ohne dass die Macht des Menschen irgendeinen Einfluss darauf hätte. Der Mensch sei nichts weiter als der Gegenstand, der das vollzieht, was Allah mit Seinem Willen entschieden habe. Er sei allem in zwanghafter Weise vollständig unterworfen. Mensch und lebloser Körper seien eins und unterschieden sich nur im Erscheinungsbild. Auf diese Art versuchten sie ihre Ansicht zu belegen und zogen als Beweis auch Verse aus dem Heiligen Koran heran, wie z. B. die Aussage des Erhabenen:
„Und ihr könnt nur wollen, wenn Allah es will.“(76:30), und Seine Aussage:
„Und du warfest nicht, als du warfest, sondern Allah warf.“(8:17), ebenso die Aussage:
„Du kannst nicht den rechtleiten, den du liebst. Allah aber leitet den recht, den Er will.“(28:56). Auch zogen sie die Aussage heran:
„Und Allah hat euch erschaffen und das, was ihr tut.“(37:96), und die Aussage:
„Allah ist der Schöpfer aller Dinge.“(39:62).
Jene Verse, die den Willen des Menschen belegen, dass er der Schöpfer seiner Taten ist, wurden von ihnen uminterpretiert. Demzufolge waren sie auch der Meinung, dass die spezifischen Eigenschaften der Dinge, die aus den Handlungen des Menschen folgen, wie das Genussgefühl, der Hunger, der Mut, das Schneiden, das Verbrennen und Ähnliches, von Allah, dem Erhabenen, stammen. Auch die Ahl-us-Sunna wa Al-Dschama’a erhoben sich, um den Mu’tazila zu widersprechen. Sie meinten, dass alle Taten des Menschen mit dem Willen Allahs und Seiner Erlaubnis geschehen würden. Wille und Erlaubnis sei ein und dasselbe und stelle eine Eigenschaft des Lebendigen dar. Sie erfordere, dass eines von zwei Geschicken zu einer gewissen Zeit bestimmt sei zu geschehen, wobei das Vermögen zu allem in ebenbürtiger Weise vorhanden sei. Die Handlungen des Menschen unterlägen Allahs Entscheidung: wenn Er eine Sache will, so sagt Er ihr: „Sei!“ – und sie ist. Sein Urteil bzw. Seine Entscheidung (al-Qada‘) bestehe aus der Tat mit zusätzlicher Determinierung. Allah, der Erhabene, sagt:
„So vollendete Er sie(qadahunna) als sieben Himmel.“(41:12)
„Und Dein Herr hat entschieden (wa qada rabbuka).“(17:23)
Mit „Entscheidung“ sei hier das Geschehene gemeint, nicht eines der Attribute Allahs. Die Handlung des Menschen erfolge mit der Bestimmung Allahs, was für jedes Geschöpf in seinen spezifisch vorhandenen Merkmalen, wie schön und unschön, Nutzen und Schaden, sowie in deren zeitlichen und örtlichen Inhalt samt der sich daraus ergebenden Belohnung und Bestrafung festgelegt werde. Gemeint sei, den Willen und die Macht Allahs umfassend zu verstehen, denn alles sei durch Allah erschaffen worden. Dies beinhalte auch den Willen und die Macht, nicht zu zwingen und nicht zu nötigen. Sie argumentierten folgendermaßen: „Wenn nun behauptet wird: ‚Eure Aussage hätte zur Folge, dass der Ungläubige zum Unglauben und der Frevler zur Frevelhaftigkeit gezwungen wäre, dies würde aber ihre Beauftragung mit Glauben und Gehorsam ungültig machen.‘, so antworten wir, dass Allah, der Erhabene, von ihnen Unglauben und Frevelhaftigkeit aus ihrer freien Wahl heraus wollte. Somit gibt es keinen Zwang. Ebenso wusste Allah, dass sie sich aus freier Wahl für den Unglauben bzw. für die Frevelhaftigkeit entscheiden würden, folglich ist keine Beauftragung mit dem Unmöglichen ergangen.“ Bezüglich der Taten des Menschen führten sie als Antwort auf die Mu’tazila und Dschabriyya Folgendes aus: „Die Menschen begehen Handlungen aus freier Wahl. Für diese werden sie belohnt, wenn es sich um Gehorsamkeiten handelt, oder bestraft, wenn es Ungehorsamkeiten sind.“ Sie versuchten nun den Aspekt der freien Handlungswahl zu erläutern, obwohl sie gleichzeitig betonten, dass Allah in der Erschaffung und Realisierung der Handlungen unabhängig agiere. So behaupteten sie: „Der Erschaffer der menschlichen Handlung ist Allah, Der Erhabene.
Allerdings haben die Macht bzw. die Fähigkeit des Menschen und sein Wille auf manche Taten Einfluss, so z. B. auf das Anpacken. Auf andere Taten haben sie jedoch keinen Einfluss, wie z. B. auf die Zitterbewegung. Allah, der Erhabene, ist der Erschaffer aller Dinge. Der Mensch hingegen erwirbt die Tat (kasb).“ Ihre These erläuterten sie folgendermaßen: „Wenn der Mensch seine Fähigkeit und seinen Willen auf eine Handlung leitet, erwirbt er sie. Lässt Allah die Tat dann anschließend geschehen, so hat Er sie erschaffen. Die Macht zur einen Handlung ergibt sich somit aus zwei „Mächten“, jedoch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Von Seiten Allahs, des Erhabenen, ist es die Macht, die Tat entstehen zu lassen. Von Seiten des Menschen hingegen ist es die Fähigkeit, diese Tat zu erwerben. Mit anderen Worten hat es Allah zur Regel gemacht, die Tat bei der Fähigkeit und dem Willen des Menschen entstehen zu lassen, nicht aber durch dessen Willen und dessen Fähigkeit. Diese Verbindung stellt den „Erwerb“ (Al-Kasb) dar.“ Zur Belegung ihrer Aussage führten sie jene Verse an, die die Dschabriyya als Beweis für die Erschaffung der Taten durch Allah und dass sie durch Seinen Willen entstanden sind herangezogen haben. Den „Erwerb“ der Taten durch den Menschen versuchten sie auch mit folgenden Aussagen des Erhabenen zu belegen:
„Als Lohn für das, was sie zu tun pflegten.“(56:24)
„Wer also will, der soll glauben, und wer nicht will, der soll den Glauben verweigern.“(18:29)
„Ihr (der menschlichen Seele) wird zuteil, was sie erworben hat, und über sie kommt, was sie sich zuschulden kommen lässt.“(2:286)
Sie meinten, dass sie sowohl den Mu’tazila als auch den Dschabriyya geantwortet hätten. In Wahrheit ist aber ihre Ansicht und die der Dschabriyya dieselbe. Sie sind im Grunde Vertreter der Dschabriyya-Schule. In ihrem Erklärungsversuch bezüglich des „Erwerbs“ sind sie vollkommen gescheitert. Weder ist dieser gemäß dem Verstand erfolgt, da kein rationaler Beweis dafür existiert, noch ist er auf überliefertem Wege ergangen, da es dafür aus den Offenbarungstexten keinen Beleg gibt. Vielmehr handelt es sich um den gescheiterten Versuch, zwischen der Meinung der Mu’tazila und jener der Dschabriyya zu vermitteln. Kurz gesagt nahm die Frage von „Al-Qada‘ wa al-Qadar“ (Schicksal und Bestimmung) unter den Scholastikern eine wichtige Rolle ein. Sie alle machten die Handlungen des Menschen und was sich aus diesen Handlungen an spezifischen Eigenschaften ergibt, d. h. an Eigenschaften, die der Mensch durch seine Tat in den Dingen hervorruft, zum Untersuchungsgegenstand. Auch machten sie die Frage, ob die Handlung des Menschen und die Eigenschaften, die der Mensch mit seiner Handlung in den Dingen hervorruft, von Allah oder vom Menschen erschaffen worden sind, zur Grundlage ihrer Untersuchung wie auch die Frage, ob all dies mit dem Willen Allahs oder dem Willen des Menschen geschehen ist. Diese Untersuchung entstand deswegen, weil die Mu’tazila diese Frage mit Name und Inhalt („Schicksal und Bestimmung“, „freier Wille“ oder „Zwang und freie Wahl“) aus der griechischen Philosophie übernommen hatten. Sie untersuchten sie von einem Gesichtspunkt aus, den sie mit der für Allah zwingenden Eigenschaft der absoluten Gerechtigkeit für vereinbar hielten. Dies führte dazu, dass die Dschabriyya und die Ahl al-Sunna sich erhoben, um den Mu’tazila in ihren Ansichten zu widersprechen und zwar in derselben Art und auf derselben Grundlage. Sie alle untersuchten diese Frage vom Aspekt der Eigenschaften Allahs her und nicht allein aus ihrem Inhalt heraus.
Den Willen Allahs und Seine Macht verknüpften sie mit der Handlung des Menschen und den spezifischen Eigenschaften, die seine Handlung in den Gegenständen hervorruft. Demgemäß fragten sie sich: Ist die Handlung mit der Macht und dem Willen Allahs oder mit der Macht und dem Willen des Menschen entstanden? „Al-Qada‘ wa al-Qadar“ (Schicksal und Bestimmung) sind somit die Handlungen des Menschen und die Eigenschaften, die der Mensch mit seiner Handlung in den Dingen hervorruft. „Al-Qada'“ (das Schicksal) verkörpert dabei die Handlungen des Menschen und „Al-Qadar“ (die Bestimmung) die spezifischen Eigenschaften in den Dingen. Dass „Al-Qada'“ die Handlungen des Menschen verkörpert, geht deutlich aus ihrer diesbezüglichen Untersuchung und ihrem Zwiespalt hervor; aus ihrer Aussage nämlich, dass der Mensch die Handlung mit seinem Willen und seiner Fähigkeit durchführt. Ebenso geht dies aus der Aussage derjenigen hervor, die ihnen widersprachen, indem sie meinten, die Handlung des Menschen entstehe durch die Macht Allahs und Seinen Willen und nicht durch die Fähigkeit und den Willen des Menschen. Auch ergibt sich das aus der Aussage jener, die ihnen beiden widersprachen und behaupteten, dass die Tat des Menschen durch die Erschaffung Allahs entstehe und zwar bei der Fähigkeit und dem Willen des Menschen dazu, nicht aber durch seine Fähigkeit und seinen Willen. All das zeigt, dass mit „Al-Qada'“ die Taten des Menschen gemeint sind. Dass „Al-Qadar“ die spezifischen Eigenschaften bezeichnet, die der Mensch in den Dingen hervorruft, geht ebenso deutlich aus ihrer Untersuchung und ihrem diesbezüglichen Widerstreit hervor. Als sie nämlich die Folgen der menschlichen Handlungen erörterten, untersuchten sie auch die spezifischen Eigenschaften, die diese in den Dingen hervorrufen. So sagten sie: „Wenn wir Stärke mit Zucker vermischen und ziehen lassen, entsteht daraus ein Pudding. Sind nun der Geschmack und die Farbe des Puddings unsere Schöpfung oder die Schöpfung Allahs? Ist der Austritt des Lebensgeistes bei der Schlachtung, die Bewegung des Steins beim Anstoßen, das Erblicken beim Öffnen der Augen, der Bruch des Beins beim Sturz, dessen Genesung nach entsprechender Behandlung und Ähnliches unsere Schöpfung oder die Schöpfung Allahs?“ Diese Untersuchung stellt im Grunde eine Untersuchung der spezifischen Eigenschaften dar, was auch ihr Widerstreit bei der Beurteilung dieser Tatfolgen belegt.
Bischr Ibn Al-Mu’tamir, der Führer der Mu’tazila in Bagdad, meinte dazu: „Alles, was sich aus unserer Tat ergibt, ist unsere Schöpfung. Wenn ich beispielsweise das Auge eines Menschen öffne und er einen Gegenstand erblickt, so ist sein Erblicken des Gegenstandes meine Handlung, da es sich aus meiner Handlung ergibt. Gleiches gilt für die Farbe, den Geschmack und den Geruch der Gerichte, die wir zubereiten, sie alle sind unsere Handlung. Ebenso zählen der Schmerz, der Genuss, die Gesundheit, die sexuelle Leidenschaft etc… zu den Handlungen des Menschen.“ Abu Hudhail Al-Allaf, einer der führenden Mu’tazila, sagte: „Es gibt einen Unterschied in den Handlungsfolgen: Alles, was sich aus der Handlung des Menschen ergibt und dessen Entstehungsweise bekannt ist, ist seine Tat. Wenn dessen Entstehungsweise nicht bekannt ist, dann ist es nicht die Tat des Menschen. So stellt der Schmerz, der sich aus dem Schlag ergibt, die Bewegung des Steins nach oben, wenn er hinauf geworfen, bzw. nach unten, wenn er hinunter geworfen wird, und Ähnliches die Tat des Menschen dar. Hingegen sind Farben, unterschiedlicher Geschmack, Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit, Feigheit, Mut, Hunger und Sättigung alles Handlungen Allahs.“ Al-Nazzam seinerseits meinte, dass der Mensch nur die Bewegung vollziehe. Was nicht zur Bewegung gehöre, sei nicht seine Schöpfung. Der Mensch vollziehe die Bewegung auch nur mit sich selbst, nicht aber mit anderen Dingen. Wenn der Mensch z. B. seine Hand bewege, so sei es seine Tat. Werfe er aber einen Stein und bewege sich dieser nach oben oder nach unten, so sei die Bewegung des Steins nicht seine Handlung, sondern die Handlung Allahs. Mit anderen Worten habe Allah den Stein so beschaffen, dass er sich bewege, wenn er von jemandem gestoßen bzw. geworfen werde.“
Die Entstehung der Farben, des Geschmacks, der Düfte, des Schmerzes und des Genussgefühls seien somit keine Handlungen des Menschen, da sie keine Bewegungen verkörpern. Diese Unterschiedlichkeit in der Betrachtungsweise der Tatfolgen verdeutlicht realiter, dass es sich um einen Widerstreit in den spezifischen Eigenschaften der Dinge handelt: Zählen diese zur Handlung des Menschen oder zur Handlung Allahs? Untersuchungsgegenstand und diesbezüglicher Widerstreit sind also die spezifischen Eigenschaften, die der Mensch in den Dingen erzeugt. Auf diese Weise erfolgte die Untersuchung desselben Themas in derselben Art bei allen Scholastikern. Da die Untersuchung der Tatfolgen, d. h. der Eigenschaften, die der Mensch in den Dingen erzeugt, eine Zweiguntersuchung war, die aus der grundlegenden Untersuchung der menschlichen Handlung folgte, war sie zweitrangig im Widerstreit zwischen den Mu’tazila, den Ahl al-Sunna und den Dschabriyya. Demgegenüber war die Untersuchung der Handlung des Menschen bei allen Scholastikern dominierend. Die Diskussionen und der Disput fokussierten daher eher auf sie als auf die sich daraus ergebenden Eigenschaften. Nachdem der Terminus „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ (Schicksal und Bestimmung) eine einzige Sache bezeichnet – obwohl er aus zwei Wörtern besteht, sind beide miteinander vermengt und gehen ineinander über – stach er in späterer Zeit bei der Untersuchung der Handlungen des Menschen stärker hervor als bei der Untersuchung der spezifischen Eigenschaften, die der Mensch (durch seine Handlung) erzeugt. Der Disput über das Thema „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ dauerte an, wobei jeder es auf eine Weise verstand, die der des anderen widersprach. Nach den Gründern der Mu’tazila und der Ahl al-Sunna kamen deren Schüler und Gefolgsleute. Der Disput zwischen ihnen wurde fortgesetzt und in jeder Epoche aufs Neue entfacht. Durch den Rückgang der Mu’tazila und die Dominanz der Ahl al-Sunna, verschob sich der Disput zu ihren Gunsten. Die Disputanten begannen nun, über den Inhalt des Begriffs „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ zu streiten und fingen an, ihm neue Bedeutungen beizumessen, die sie sich selbst einbildeten. Sie versuchten, sprachliche und islamrechtliche Ausdrücke darauf anzuwenden, sodass einige von ihnen sogar behaupteten, „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ sei eines der Geheimnisse Allahs, das niemand kenne. Andere wiederum meinten, es sei überhaupt nicht erlaubt, das Thema „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ zu untersuchen, weil der Gesandte (s.) dies untersagt habe. Dabei zogen sie folgenden Hadith als Beweis heran:
„Wenn Al-Qadar erwähnt wird, so haltet inne“. Manche von ihnen versuchten, zwischen den Begriffen „Al-Qada'“ und „Al-Qadar“ zu unterscheiden und behaupteten, „Al-Qada'“ sei das allgemeine Urteil in den Allgemeinbegriffen allein und „Al-Qadar“ das spezifische Urteil in den Teilbegriffen samt seinen Einzelheiten. Andere meinten ihrerseits, „Al-Qadar“ sei der Plan und „Al-Qada'“ der Vollzug. Gemäß dieser Meinung plant Allah die Tat, d. h. Er zeichnet sie vor und legt sie fest. Er hat also die Tat bestimmt und dies wird als „Al-Qadar“ – die Bestimmung – bezeichnet. Er, erhaben sei Er, führt die Tat auch durch und vollzieht sie, somit hat Er die Tat vollendet. Und das ist „Al-Qada'““ – die Vollendung. Einige vertraten die Ansicht, dass mit „Al-Qadar“ das Bestimmen und mit „Al-Qada'“ das Erschaffen gemeint sei. Andere verknüpften beide Ausdrücke und sagten, „Al-Qada'“ und „Al-Qadar“ seien miteinander verbunden und könnten voneinander nicht getrennt werden, denn der eine Begriff, „Al-Qadar“, stelle die Basis dar und der andere, „Al-Qada'“, das Gebäude. Wer zwischen beiden zu trennen versuche, der zerstöre das Gebäude und vernichte es. Eine weitere Gruppe wiederum unterschied zwischen beiden Begriffen und machte „Al-Qada'“ zu etwas und „Al-Qadar“ zu etwas anderem.
So setzte sich der Disput über das Thema „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ in dieser spezifischen Bezeichnung fort, sowohl unter jenen, die zwischen beiden Begriffen unterschieden, als auch unter denen, die sie für untrennbar hielten. Bei allen hatte dieser Zwillingsbegriff jedoch denselben Inhalt, abgesehen davon, wie er von ihnen interpretiert wurde. Er bezeichnet in jedem Fall die Handlung des Menschen: Ließ Allah oder der Mensch sie geschehen? Oder erschuf sie Allah, als der Mensch sie vollzog? Die Untersuchungen konzentrierten sich auf diesen Inhalt und formten sich darauf basierend aus, und der Disput drehte sich stets um dasselbe Thema. Nach Aufkommen dieser Problematik wurde die Frage von „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ den Untersuchungen der Glaubensfundamente angeschlossen und zum sechsten Glaubensteil der Aqida erklärt, weil sie eine mit Allah verknüpfte Angelegenheit bezeichnet – dass nämlich Er die Handlung und die spezifischen Eigenschaften der Dinge erschaffen hat, seien diese Handlung bzw. diese Eigenschaften nun gut oder schlecht.
Aus all dem geht hervor, dass die Frage von „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ als Zwillingsbegriff mit ein und derselben Bedeutung – oder wie sie es nennen als „untrennbare Begriffe“ – in den Untersuchungen der Muslime erst nach der Entstehung der Scholastiker auftrat. In dieser Frage existierten auch nur zwei Meinungen: Die eine besagte die freie Wahl, dies war die Meinung der Mu’tazila, und die andere den Zwang, was die Meinung der Dschabriyya und der Ahl Al-Sunna war, auch wenn es hinsichtlich der Formulierung bzw. der Wortverdrehung Unterschiede zwischen ihnen gab. Die Muslime legten sich auf diese beiden Meinungen fest. Sie wurden von der diesbezüglichen Meinung des Koran und der Hadithe und von dem, was die Prophetengefährten daraus verstanden, weggebracht und hingeführt zu einem Disput unter einer neuen Bezeichnung nämlich: „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“, „Zwang und freie Wahl“ oder „die Willensfreiheit“. Auch wurde der Disput über einem neuen Inhalt geführt und zwar: Sind die Taten durch die Schöpfung und den Willen des Menschen entstanden oder durch die Schöpfung und den Willen Allahs? Und wird das, was der Mensch an spezifischen Eigenschaften in den Dingen erzeugt, durch die Handlung des Menschen und seinen Willen oder durch Allah hervorgerufen? Nachdem diese Untersuchung aufkam, wurde die Frage von „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“ in die Erörterung der Glaubensgrundlagen aufgenommen und zum sechsten Glaubensteil der Aqida erklärt.