Aus dem Buch „Die islamische Persönlichkeit Teil 1“
Der Doppelbegriff „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“, mit dem die Scholastiker jenen Inhalt bezeichneten, den sie von den griechischen Philosophen übernommen hatten, wurde davor weder sprachlich noch islamrechtlich für diese Bedeutung festgesetzt.
Um zu erläutern, wie sehr die sprachliche bzw. islamrechtliche Bedeutung von „Al-Qadar“ bzw. „Al-Qada'“ von jener Bedeutung abweicht, die die Scholastiker damit verknüpft haben, seien im Folgenden die Bedeutungen beider Begriffe dargelegt, wie sie in der Sprache und in den Offenbarungstexten vorkommen. Das Wort „Al-Qadar“ taucht in mehreren Bedeutungen auf. In der Sprache sagt man: „qadara al-Amra, wa qaddarahu“, d. h. er plante eine Sache. Auch sagt man: „qaddara asch-Schai’a bisch-Schai’i“, d. h. eine Sache mit einer anderen zu bemessen bzw. abzuwägen und in gleicher Größe zu gestalten. „Qaddara asch-Schai’a qadaratan“ bedeutet, eine Sache vorzubereiten und zeitlich festzulegen. Und „qaddara al-Amra“ bedeutet, eine Sache zu betrachten, zu planen und zu bemessen. „Qaddara Qadaran-Illaha“ heißt, Allah hochzupreisen. Und „qaddar-Allahu alaih-il-Amra wa qaddara lah-ul-Amra“ bedeutet, Allah entschied über jemanden eine Sache und richtete. „Wa alaihi qaddar-ar-Rizqa“ heißt, dass Allah jemandem den Unterhalt zuteilt. „Qadara wa qaddara ala Iyalih“ bedeutet, den Unterhaltsberechtigten den Unterhalt zu schmälern. „Qaddara ar-Radschulu“ heißt, jemand denkt über die Regelung und Planung seiner Angelegenheiten nach. Und „qadara asch-Schai’a“ bedeutet, eine Sache zu bemessen.
Im Hadith heißt es:
„Und wenn er (der Neumond) sich euch verdeckt, so bemisst den Monat (faqdiru lahu)!“, d.h. vollendet ihn auf dreißig Tage (so auch in anderen Hadithen).
Das Wort „Qadar“ taucht auch im Heiligen Koran in mehreren Bedeutungen auf. Der Erhabene sagt:
„Und der Befehl Allahs ist ein ‚qadaran maqdura'“(33:38), d. h. ein unabänderlicher Befehl und ein feststehender Entscheid.
Auch sagt Er:
„Faqadara alaihi Rizqah“(89:16), d. h. dem Menschen seinen Unterhalt zu schmälern.
Und Er sagt:
„So vereinigte sich das Wasser ‚ala amrin qad qudir'“(54:12), d. h. zu einem beschlossenen Ereignis, das Allah in der verwahrten Tafel[5] bereits festgeschrieben hatte, nämlich der Untergang des Volkes Noah durch die Sintflut.
Auch sagt Allah:
„Wa qaddara fiha Aqwataha“(41:10) (Und (Er) bemaß auf ihr (der Erde) ihre Nahrung in richtigem Verhältnis). D. h. Er hat aus der Erde die Nahrung ihrer Völker hervorsprießen lassen, m. a. W. hat Er ihr die Eigenschaft des Keimens der Nahrung gegeben.
Und Er sagt:
„Innahu fakkara wa qaddar“(74:18), d. h. Er dachte nach, was er über den Koran sagen sollte, wägte seine Aussage bei sich ab und bereitete sie vor.
Auch sagt der Erhabene:
„Alladhi khalaqa fasawwa. Walladhi qaddara fahada.“(87:2-3), d. h. Er, der alles erschuf und gleichmäßig formte und jedem Getier beimaß, was es gedeihen ließ. Er führte es dahin und ließ es die Art erkennen, daraus Nutzen zu ziehen. Mit anderen Worten schrieb Er allen Lebewesen, Tieren wie Menschen, gewisse Bedürfnisse zu, die befriedigt werden müssen, und führte sie zu deren Befriedigung hin.
Dies entspricht Seiner Aussage:
„Wa qaddara fiha Aqwataha“(41:10) (Und (Er) bemaß auf ihr (der Erde) ihre Nahrung (in richtigem Verhältnis)).
Auch sagt Er:
„Wa qaddarna fiha as-Sayra“(34:18), d. h. Wir haben das Reisen zwischen ihnen (den Städten) leicht und sicher gemacht.
Der Erhabene sagt:
„Siehe, Allah hat für jede Sache einen Qadar gemacht.“, d. h. ein Maß und eine zeitliche Bestimmung.
Und Er sagt:
„Wahrlich, jegliches Ding haben Wir mit Qadar erschaffen.“ (54:49), d. h. mit rechtem Maß.
Auch sagt Er:
„Bis zu einem bestimmten Qadar.“ (77:22), d. h. bis zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Und sagt:
„Wa nahnu qaddarna bainakum-ul-Mawta.“(56:60) (Und Wir haben unter euch den Tod bemessen). D. h. ihn unter euch verschiedentlich und abweichend bemessen, sodass eure Lebensspannen zwischen kurz, mittel und lang variieren.
Auch sagt der Erhabene:
„Und Wir senden es nur in einem bestimmten Qadar hinab.“(15:21), d. h. in einem bestimmten Maße.
Und Er sagt:
„Qaddarna, innaha lamin-al-Ghabirin.“ (15:60), d. h. wir bestimmten, dass sie zu den Untergehenden gehören wird.
Auch sagt Er:
„Dann kamst du, o Moses, zn einem bestimmten Qadar her.“(20:40), d. h. du kamst zu einer festgesetzten Zeit, die Er dafür bestimmt hat. Das Wort „Qadar“ taucht ebenso in den Hadithen auf und bedeutet das Wissen Allahs und Seine Bestimmung.
Von Abu Hurairah wird berichtet, dass der Gesandte Allahs (s.) sprach:
„Keine Frau soll die Scheidung ihrer Schwester (Gemeint ist allgemein die Glaubensschwester, nicht bloß die leibliche) verlangen, um das zu leeren, was der anderen zusteht und um selbst geheiratet zu werden. Denn sie erhält das, was ihr als Qadar bestimmt ist (quddira laha).“ Von Al-Buchariy überliefert. D. h. was ihr Allah in der verwahrten Tafel bestimmt hat, mit anderen Worten was Er weiß und entschieden hat.
Dies entspricht der Aussage des Erhabenen:
„ala amrin qad qudir‘(54:12), d. h. gemäß einem Ereignis, das in der verwahrten Tafel bestimmt wurde.
Und von Abu Huraira wird berichtet, dass der Prophet (s.) sprach:
„Dem Sohn Adams wird kein Gelübde erfüllt, dass Ich ihm nicht bestimmt hätte (qaddartuhu). Vielmehr trifft ihn der Qadar und Ich habe ihm diesen bestimmt. Mit ihm hole Ich vom Geizhals die Gabe heraus.“ Von Al-Buchariy überliefert. D. h. das Gelübde bringt dem Sohn Adams nichts, was Allah nicht bereits entschieden und in der Verwahrten Tafel festgeschrieben, mit anderen Worten was Allah nicht bereits gewusst hätte. Vielmehr holt Er durch das Gelübde die Gabe vom Geizhals heraus. „Qaddartuhu“ bedeutet hier „Ich habe es entschieden und es gewusst“. „Al-Qadar“ bedeutet auch Allahs Bestimmung und Sein Wissen.
Al-Buchariy überliefert ebenfalls über den Weg des Abu Hurairah, dass der Gesandte Allahs (s.) sprach:
„Adam und Moses hatten einen Disput. Moses sagte: „Bist du Adam, der seine Nachkommenschaft aus dem Paradies herausbrachte?“ Und Adam sprach: „Bist du Moses, den Allah mit Seiner Botschaft und Seiner direkten Ansprache auserwählte? Und dann wirfst du mir eine Sache vor, die mir bestimmt war (qudira alay), bevor ich erschaffen wurde?“ So hat Adam Moses im Argument geschlagen.“ „Qudira alay“ bedeutet hier von Allah gewusst, als eine Bestimmung, die Er entschieden hat.
Und Tawus berichtet, er habe Abdullah Ibn Umar sagen hören: „Der Gesandte Allahs (s.) sprach:
„Alles ist durch Qadar bestimmt, sogar Unvermögen und Klugheit oder Klugheit und Unvermögen.“ Von Muslim überliefert. D. h. alles ist mit der Bestimmung Allahs und Seinem Wissen geschehen bzw. Er hat es in der Verwahrten Tafel niedergeschrieben. Der Begriff „Qadar-il-lahi“ (Qadar Allahs) ist in den Aussagen der Prophetengefährten vorgekommen und bedeutet (ebenso) die Bestimmung Allahs und Sein Wissen. Von Abdullah Ibn Abbas wird berichtet, „dass Umar Ibn Al-Khattab in den Scham (Arab. Bezeichnung für das Gesamte Gebiet von Syrien,Libanon, Jordanien und Palästina) auszog. Als er den Ort von Sargh erreichte, trafen die Heereskommandanten auf ihn: Abu Ubaidah Ibn Al-Dscharrah und seine Freunde. Sie erzählten ihm, dass die Pest im Gebiet von Al-Scham ausgebrochen war.“ Ibn Abbas sagte: „Da sprach Umar: „Rufe mir die ersten Muhadschirun (Diejenigen Muslime, die dem Propheten folgend aus Mekka ausgewandert sind) zusammen.“, und ich tat es. Er beriet sich mit ihnen und berichtete ihnen, dass die Pest in Al-Scham ausgebrochen war. Sie waren uneins, einige von ihnen sagten: „Du bist wegen einer Sache ausgezogen, wir sehen nicht, dass du davon abkehren solltest.“ Andere meinten: „Du hast die übrigen Leute dabei und die Gefährten des Gesandten Allahs (s.). Wir finden nicht, dass du sie dieser Epidemie aussetzen solltest.“ Darauf sagte Umar: „Erhebt euch!“, und befahl: „Rufe mir die Ansar ( Unterstützer, muslimische Einwohner Medinas, die den Propheten und die Muslime aufnahmen und ihnen Schutz gewährten. Durch ihre Unterstützung konnte der Gottesgesandte in Medina den islamischen Staat gründen) zusammen.“ Und ich rief sie zusammen. Er beriet sich mit ihnen, doch sie folgten dem Beispiel der Muhadschirun und waren sich genauso uneinig. Da sagte Umar: „Erhebt euch!“ Dann befahl er: „Rufe mir die hier befindlichen Fürsten der Quraisch zusammen, die nach dem Fath (Eroberung Mekkas durch den Propheten (s.)) ausgewandert sind.“ Ich rief sie zusammen und keine zwei Leute von ihnen waren sich uneinig. Sie sagten: „Wir finden, dass du mit den Leuten zurückkehren und sie dieser Epidemie nicht aussetzen solltest.“ Daraufhin sprach Umar zu den Leuten: „Ich reite am Morgen los, so tut es ebenfalls.“ Da sagte Abu Ubaidah: „Fliehst du vor Allahs Qadar?“ Und Umar antwortete: „Hätte es doch bloß jemand außer dir gesagt, o Abu Ubaidah. Jawohl, wir flüchten vor dem Qadar Allahs hin zum Qadar Allahs. Nimm an, du hättest Kamele und betrittst ein Tal, das zwei Seiten hat. Die eine ist fruchtbar, die andere dürr. Wenn du nun die fruchtbare Seite beweidest, tust du es dann nicht mit dem Qadar Allahs? Und wenn du die dürre Seite beweidest, tust du es dann nicht auch mit dem Qadar Allahs?““ „Qadar Allahs“ bedeutet hier Seine Vorhersehung und Sein Wissen. D. h. wenn er die fruchtbare Seite beweiden würde, täte er das, was Allah in der Verwahrten Tafel bereits niedergeschrieb und wusste. Und wenn er die dürre Seite beweiden würde, täte er ebenfalls das, was Allah in der Verwahrten Tafel niederschrieb und wusste.
Aus all dem wird deutlich, dass der Ausdruck „Al-Qadar“ zu den multivalenten Begriffen (Alfadh muschtaraka) gehört, die mehrere Bedeutungen haben. Dazu zählen die Bestimmung, das Wissen, die Planung, die zeitliche Terminierung, die Vorbereitung und das Festlegen von bestimmten Eigenschaften in den Dingen. Trotz der Vielzahl dieser Bedeutungen, taucht in keiner von ihnen auf, „Al-Qadar“ sei der zwanghafte Vollzug einer Handlung durch den Menschen. Ebenso besagt keine von ihnen, „Al-Qadar“ sei „das spezifische Urteil in den Teilbegriffen samt seinen Einzelheiten“. Auch kommt in keiner von ihnen vor, „Al-Qadar“ sei „eines der Geheimnisse Allahs“. Demzufolge besitzt der Begriff „Al-Qadar“ mehrere sprachliche Bedeutungen. Der Koran hat den Begriff in diesen Bedeutungen verwendet und die Hadithe den Begriff in den Bedeutungen des Koran. Über diese Bedeutungen bestand damals keine Meinungsverschiedenheit, weder über die, die im Koran erwähnt worden sind, noch über jene, die in den Hadithen auftauchen. Diese Bedeutungen stehen für einen sprachlichen Ausdruck, somit hat der Verstand keinen Einfluss darauf. Nachdem weder in einem Hadith noch in einer Aya dieser Begriff in einer islamrechtlichen Bedeutung verwendet wurde, die sich von den sprachlichen Bedeutungen unterscheidet, darf eine neue, konventionelle Begriffsbestimmung nicht als islamrechtliche Bestimmung bzw. Bedeutung bezeichnet werden. Aus diesen Ausführungen wird klar, dass mit den Bedeutungen, die in den Koranversen enthalten sind, nicht jene Bedeutung von „al-Qadar“ gemeint ist, über die sich später die Scholastiker stritten. Mit der Bedeutung von „al-Qadar“, wie sie in den Hadithen auftaucht, ist die Vorhersehung Allahs und Sein Wissen gemeint. Anders gesagt hat Er alles in der Verwahrten Tafel niedergeschrieben. Dies hat aber nichts mit dem Thema von „Al-Qada‘ wa al-Qadar“ zu tun, wie es die Scholastiker erörterten. Was den Hadith anbelangt, den Al-Tabaraniy in einem guten Isnad (Überlieferungskette) von Ibn Mas’ud als Prophetenaussage überliefert, in dem es heißt:
„Wenn Al-Qadar erwähnt wird, dann haltet inne!“, so bedeutet dies: Wenn das Wissen Allahs und Seine Vorhersehung der Dinge erwähnt werden, so forscht darüber nicht nach. Denn die Tatsache, dass die Dinge von Allah vorhergesehen sind, bedeutet, dass Allah sie in der Verwahrten Tafel niedergeschrieben d. h. sie gewusst hat. Das Wissen Allahs um diese Dinge gehört zu Seinen Eigenschaften, an die man Iman vollziehen muss. Der Hadith bedeutet also: Wenn erwähnt wird, dass Allah die Dinge vorhergesehen hat und sie (bereits in der Ewigkeit) kennt, so diskutiert nicht darüber, sondern haltet inne und fügt euch.
Gleiches gilt auch für den Hadith, den Muslim über den Weg des Tawus überliefert, in dem es heißt:
„Ich habe einige der Gefährten des Gesandten Allahs (s.) noch erlebt. Sie pflegten zu sagen: ‚Alle Dinge geschehen mit Qadar.'“ Das bedeutet, dass alles mit der Vorhersehung Allahs d. h. mit Seinem Wissen geschieht. Auch sagte der Gesandte Allahs (s.):
„[…] Und trifft dich etwas, so sage nicht: ‚Hätte ich doch bloß das getan, dann wäre es anders gekommen.‘, sondern sage: ‚Qaddar-Allahu‘ – Allah hat es vorhergesehen und was Er will, das tut Er.'“ Von Muslim über den Weg des Abu Hurairah überliefert. Diese Aussage bedeutet, dass Allah es in der Verwahrten Tafel niedergeschrieben hat, es also wusste. All das gehört jedoch in den Bereich der Eigenschaften Allahs; dass Er, Allah, die Dinge bereits vor ihrem Geschehen kennt und diese Dinge mit Seinem Qadar d. h. mit Seinem Wissen ablaufen. Dies hat aber nichts mit der Untersuchung des Themas „Al-Qada‘ wa al-Qadar“ zu tun.
Der Doppelbegriff „Al-Qada‘ wa Al-Qadar“, mit dem die Scholastiker jenen Inhalt bezeichneten, den sie von den griechischen Philosophen übernommen hatten, wurde davor weder sprachlich noch islamrechtlich für diese Bedeutung festgesetzt.
