Kommentar Ist der Islam dem Fortschritt des 21. Jahrhunderts gewachsen?

Nun stellt sich die Frage, wie die Menschen davon überzeugt werden können und vor allem wie das Vertrauen der Muslime in ihre Lebensordnung gestärkt werden kann. Wie ist es möglich, dass der Islam mit seinen 1400 Jahre alten Quellen – den Offenbarungstexten Qur’an und Hadith – in der Lage ist, die Probleme der heutigen Zeit zu bewältigen, wo sich doch die Probleme verändern, sich erweitern und darüber hinaus immer wieder neue Probleme auftauchen, die vorher nicht bekannt waren? Wie ist denn ein Text, der 1400 Jahre alt ist, imstande, ein neues Problem zu lösen?

Allah, Der Erhabene, hat im Qur’an gesprochen: „[…] Und Wir haben dir das Buch herabgesandt zur Erklärung aller Dinge, und als Führung, als Gnade und als frohe Botschaft für die Gottergebenen.“ (Sura An-Nahl, Aya 89)
In einer anderen Aya sagt Allah: „[…] Heute habe Ich euch euren Din (eure Lebensordnung) vervollkommnet, Meine Gnade an euch erfüllt und den Islam als Din euch gutgeheißen. […]“ (Sura Al-Ma’ida, Aya 3)
Aus diesen Ayat wird deutlich, dass der Islam eine allumfassende Lebensordnung darstellt und für alle Probleme des menschlichen Lebens Lösungen anbietet – seien sie wirtschaftlicher, sozialer, politischer oder sonstiger Natur. Die Tatsache, dass der Islam in der Lage ist, jedes Problem zu lösen, ist Bestandteil unseres Überzeugungsfundaments (Aqida), was diese und noch andere Ayat im Qur’an untermauern.
Nun stellt sich die Frage, wie die Menschen davon überzeugt werden können und vor allem wie das Vertrauen der Muslime in ihre Lebensordnung gestärkt werden kann. Wie ist es möglich, dass der Islam mit seinen 1400 Jahre alten Quellen – den Offenbarungstexten Qur’an und Hadith – in der Lage ist, die Probleme der heutigen Zeit zu bewältigen, wo sich doch die Probleme verändern, sich erweitern und darüber hinaus immer wieder neue Probleme auftauchen, die vorher nicht bekannt waren? Wie ist denn ein Text, der 1400 Jahre alt ist, imstande, ein neues Problem zu lösen?
Die Antwort darauf muss auf zwei Ebenen erfolgen: Die erste ist die Ebene der Offenbarungstexte selbst. Die zweite ist die Ebene der neuen Probleme, ihrer Natur und Realität.


Erste Ebene


Was die erste Ebene anbelangt, so ist es eine Tatsache, dass Allah (s.w.t.) den Qur’an in einer Art offenbart hat, die umfassend ist, das heißt, der Wortlaut der jeweiligen Ayat – auch wenn sie zu spezifischen Anlässen offenbart wurden – ist allgemein gehalten, sodass ein Rechtspruch, der aus dem Qur’an abgeleitet wird, unterschiedlichste Probleme regeln kann; unabhängig von Zeit und Ort.
Die Rechtsgelehrten haben unter Zuhilfenahme vieler Textstellen und Überlieferungen ein Rechtsprinzip abgeleitet, das eben dies erläutert: „Maßgebend ist die Allgemeingültigkeit der Formulierung bzw. des Ausdrucks und nicht der spezielle Offenbarungsanlass.“
Beispiel hierfür ist die Aussage im Qur’an: „[…] und Allah wird den Ungläubigen über die Gläubigen niemals Macht verleihen.“ (Sura An-Nisa‘, Aya 141) Hier wird deutlich, dass Allah den Ungläubigen keine Verfügungsmacht über die Muslime verleiht. Diese Aya ist im Kontext von Kriegen zwischen Kuffar und Muslimen offenbart worden. Allerdings sind Wortlaut und Formulierung allgemein gehalten, wodurch man Rechtsprüche für verschiedene Angelegenheiten ableiten kann.
Zum einen für den Machtapparat, dass der Herrscher der Muslime selber auch ein Muslim sein muss, weil schlicht und einfach ein Herrscher Macht ausübt. Somit ist dies eine der Bedingungen zur Bekleidung des Kalifenamtes. Aber auch alle anderen Ämter im islamischen Regierungssystem, welche Macht ausübende Positionen verkörpern, dürfen nur von Muslimen besetzt werden.
Die Aya ist aber auch auf einen völlig anderen Bereich anwendbar, nämlich die Vormundschaft von Kindern nach einer Scheidung: Wenn hierbei der Vater ein Muslim und die Mutter eine Nichtmuslimin (Jüdin oder Christin) ist, so wird das Kind dem Vater zugesprochen, da durch die Vormundschaft die nichtmuslimische Mutter über ihr muslimisches Kind eine gewisse Macht ausüben würde und dies gemäß der Aya nicht erlaubt ist.
Weiteres Beispiel: „Was Allah Seinem Gesandten von den Einwohnern (als Beute) gegeben hat, das ist für Allah und für den Gesandten und für die Verwandten und die Waisen und die Armen und den mittellos Reisenden, damit es nicht nur unter den Reichen von euch umläuft. Und was euch der Gesandte gibt, das nehmt an; und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch. Und fürchtet Allah; wahrlich, Allah ist streng im Strafen.“ (Sura Al-Haschr, Aya 7)
Dieser Vers ist bezüglich der Aufteilung der Beute offenbart worden, um sie unter den genannten Personengruppen zu verteilen. Der Gesandte Allahs (s.a.s.) tat auch so des Öfteren, wie es mehrere Hadithe belegen. Jedoch ist die Aufforderung zur Umverteilung der Beute unter den Armen durch eine Rechtsbegründung (‚Illa) an eine Bedingung geknüpft, denn Allah (s.w.t.) sagt: „[…] damit es nicht nur unter den Reichen von euch umläuft. […]“. Diese Rechtsbegründung ist allgemeingültig, womit die Umverteilung nicht nur für die Beute gilt, sondern für alle Gelder und Einnahmen des Staates, um vorzubeugen, dass die Armen benachteiligt werden und das Geld nur unter einer bestimmten Schicht kursiert und gehortet wird: „[…] Denjenigen nun, die Gold und Silber horten und es nicht um Allahs Willen ausgeben, verkünde eine schmerzhafte Strafe!“ (Sura At-Tauba, Aya 34).
So kann der islamische Staat, das Kalifat, wenn es um die Umverteilung der Staatseinnahmen geht, Präferenzen setzen und – gemäß dem Rechtspruch, dass das Vermögen nicht ausschließlich unter den Wohlhabenden umlaufen darf – die Armen vor den Reicheren bevorzugen, damit es zur der besagten Umverteilung kommt. Dementsprechend könnte der Staat beispielsweise die Verteilung von Geldern auf bestimmte „Krisengebiete“ des Staates konzentrieren, während er den Gegenden, die beispielsweise vom Ölreichtum profitieren, keine zusätzlichen Gelder zukommen ließe; und dies unabhängig davon, um was für Einnahmen es sich handelt, die in die ärmeren Gebiete fließen würden. Es könnten Einnahmen aus der Bodensteuer (Kharadsch) sein, der Dschizya oder aber auch Einnahmen, die durch Rohölverkäufe erworben wurden, da all das Geld der gesamten Umma gehört und Allah (s.w.t.) befohlen hat, den Reichtum unter den Armen zu verteilen.
So erkennt man, dass Allah (s.w.t.) durch nur fünf Wörter (im Arabischen) eine Rechtsregel festgelegt hat, die sowohl damals wie auch heute als auch in Zukunft anwendbar ist und die Probleme der Menschheit auf eine ihrer Natur entsprechenden Art und Weise löst.
Ein anderes Beispiel ist der Hadith des Gesandten (s.a.s.), worin er sagt: „Wer ein Agrarland hat, der soll es selbst bepflanzen oder jemandem geben, der es bepflanzt.“ Dies hat der Gesandte Allahs (s.a.s.) befohlen, wobei es um das Verpachten von Agrarland ging und dies in diesem Kontext gemäß der Meinung einiger Rechtsgelehrten für Verboten erklärt wurde. Jedoch ist dieser Hadith des Propheten (s.a.s.) allgemein gehalten, womit auch im Zusammenhang mit einem anderen Hadith festgelegt wurde, dass es nicht zulässig ist, ein Agrarland brachliegen, unbebaut bzw. unbepflanzt zu lassen. Es muss bebaut oder bepflanzt werden. Denn in dem anderen Hadith, der von Umar Ibn al-Khattab (r.a.) überliefert wurde, heißt es: „Und keiner, der einen Zaun um ein Land gelegt hat, hat ein Recht nach drei Jahren.“
Wenn also jemand ein Land drei Jahre brachliegen lässt, so hat der Staat das Recht, ihm dieses Land zu entziehen und es einem anderen zu geben, der es bepflanzt, damit es für die gesamte Umma fruchtbar und nützlich ist. Hier wird von vornherein vermieden, was zurzeit beispielsweise in Brasilien geschieht, wo einige Landbarone Agrarflächen besitzen, die so groß sind wie ganz Nordrhein-Westfalen.
Eine Einzelperson besitzt Landflächen von der Größe eines Bundeslandes, während den armen Bauern dann auch noch verboten wird, einen Teil des Landes zu bepflanzen, das vom Großgrundbesitzer brach gelassen und nur für seine „Safari-Jagd“ als Prestige genutzt wird, damit er seine Gäste herumführen kann. Dies stellt ein großes Problem in Brasilien dar und ist auch einer der Hauptgründe für die große Armut, die dort vorherrscht, obwohl Brasilien – gemessen an seiner großen Fläche und seinem Reichtum an Gewässern – sehr wohlhabend ist. Dies wäre in einem Kalifat unmöglich, solange die islamischen Gesetze konsequent angewendet würden.


Zweite Ebene


Die zweite Ebene ist die der Realität und die Natur der menschlichen Probleme an sich. Der Islam betrachtet im Grunde genommen alle Probleme – egal, ob sie wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher, sozialer oder sonstiger Art sind – als Probleme des Menschen, d.h. Probleme, die den Menschen betreffen, wenn er bemüht ist, seine Instinkte und organischen Bedürfnisse zu befriedigen. Alle Probleme führt der Islam auf dieses Grundproblem zurück. Hierbei kann als Beispiel nochmals Wohlstand und Armut herangezogen werden:
In den westlich-kapitalistischen Staaten, also praktisch weltweit, wird die Armut als ein wirtschaftliches Problem betrachtet. Armut bedeutet wirtschaftliche Schwäche, womit die Wirtschaft angekurbelt werden und das Bruttosozialprodukt gesteigert werden müsse, damit die Armut beseitigt würde. Und deswegen ist auch der wichtigste Faktor bei allen wirtschaftlichen Untersuchungen das Wirtschaftswachstum eines Landes. Glück oder Unglück entspräche somit dem Wirtschaftswachstum. Im Grunde stellt dies ein fatales Ergebnis der Anwendung menschlicher Logik dar.
Dies spiegelt sich in den riesigen Industriestaaten wie Deutschland und Österreich wider: Obwohl es statistisch gesehen ein Wirtschaftswachstum gibt, das manchmal über drei bis vier Prozent liegt, herrscht Armut vor und wird durch das stetige Wachstum nicht verringert, geschweige denn beseitigt, sondern nimmt permanent zu. So wurde in mehreren Studien nachgewiesen, dass im so genannten Sozialstaat Deutschland und auch in vielen anderen westlichen Ländern immer mehr Kinder unter der Armutsgrenze leben. Trotzdem wähnt man sich guter Dinge, da man das Wirtschaftswachstum als Wohlstandsmaßstab festgelegt hat und das Problem Armut als rein wirtschaftliches Problem betrachtet.
Der Islam behandelt dieses Problem – wie jedes andere auch – in erster Linie als ein menschliches. D. h. die Armut resultiert daraus, dass ein Mensch seine Grundbedürfnisse nicht ausreichend decken kann. Dies ist Gegenstand der Betrachtung. Da die Grundbedürfnisse individuell sind, wird das Problem nicht dadurch gelöst, indem man einfach mehr produziert, um das Wirtschaftswachstum zu steigern. Denn die Mehrproduktion garantiert nicht, dass die Waren auch wirklich jeden Einzelnen erreichen, damit dieser seine Grundbedürfnisse befriedigen kann. Das Problem liegt also nicht in der Produktion, sondern in der Umverteilung des Produzierten.
Egal wie hoch das Wirtschaftswachstum sein mag; solange das Problem der Umverteilung nicht gelöst wird, wird es immer Armut geben. Denn die Umverteilung garantiert, dass zumindest die Grundbedürfnisse eines jeden Individuums befriedigt werden und möglichst viele Menschen am erwirtschafteten Vermögen teilhaben. Das Problem Armut ist nämlich als ein menschliches Problem von individueller Natur, womit es auch individuell gelöst werden muss.
Und so hat uns Allah (s.w.t.) zur Lösung des Armutproblems die Umverteilung nahe gelegt, womit jedem Individuum garantiert werden soll, seine Grundbedürfnisse befriedigen zu können. In einem Hadith spricht der Gesandte Allahs (s.a.s.) über diese Grundbedürfnisse: „Der Sohn Adams (Mensch) besitzt kein besseres Recht, als ein Haus zu haben, worin er wohnen kann, Kleidung, womit er seine Blöße bedeckt, und ein Stück Brot und etwas Wasser.“ Auch wenn das Wirtschaftswachstum nicht sehr hoch wäre, so gäbe es zumindest keine Armut.
Ein anderes Problem ist das Alter bzw. das Altern der Gesellschaften und dies insbesondere im Westen. Die Überalterung der Gesellschaften wird zunehmend größer. Das liegt vor Allem darin begründet, dass auf der einen Seite die Fertilitätsrate (Kind pro Frau) in den Indurstriestaaten stetig sinkt und auf der anderen Seite die Lebenserwartung steigt. Und so entsteht das Problem bzw. die Frage, was mit diesen alten Menschen zu machen ist.
Hier wurde das Problem Alter – entsprechend der kapitalistischen Betrachtungsweise – als rein wirtschaftliches Problem behandelt. Die jungen Berufstätigen zahlen in die staatliche Rentenversicherung ein, damit die arbeitsunfähigen und alten Menschen versorgt werden können. Allerdings sind wegen des demographischen Wandels nur noch verhältnismäßig wenig Berufstätige vorhanden, die das instabile Rentensystem finanzieren, wodurch das Einkommen der ständig mehr werdenden Rentner abnimmt. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, setzt man einfach das Renteneintrittsalter nach oben. Und so ist das Problem für sie gelöst. Diese alten Menschen wandern dann irgendwann ins Altersheim ab und werden gewissermaßen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dort werden sie im wahrsten Sinne des Wortes gefüttert und gewaschen. Aber wirklich kümmern tut sich dort niemand um sie.
Und wie geht der Islam dieses Problem an? Das Problem Alter im Islam ist kein ausschließlich wirtschaftliches Problem, sondern vielmehr ein soziales; ein absolut natürliches Bedürfnis, dass ein alter Mensch sich in seiner Familie, in seiner Gemeinschaft geborgen fühlen möchte, sich behütet und einen Wert fühlen möchte, den er noch hat. Es widerspricht der menschlichen Natur, aus seinem familiären Umfeld herausgelöst zu werden und seinen Lebensabend in einem sterilen Altersheim zu verbringen.
Und hier zeigt sich wieder, auf welch perfekte Art und Weise der Islam sich dieser Problematik annimmt. So spricht Allah (s.w.t.) in verschiedenen Versen: „Und dient Allah und setzt Ihm nichts zur Seite; und seid gütig zu den Eltern und zu den Verwandten, […] Seht, Allah liebt nicht den Hochmütigen und Prahler, die da geizig sind und den Leuten gebieten, geizig zu sein, und verbergen, was Allah ihnen in Seiner Huld gegeben hat; und den Ungläubigen haben Wir eine schändliche Strafe bereitet.“ (Sura-An-Nisa‘, Ayat 36-37)
Weiter heißt es: „Und dein Herr hat befohlen: Dient keinem außer Ihm, und (erweist) den Eltern Güte. Wenn ein Elternteil oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sage dann nicht einmal ‚Pfui!‘ zu ihnen und fahre sie nicht an, sondern sprich zu ihnen in ehrerbietiger Weise. Und senke für sie in Barmherzigkeit den Flügel der Demut und sprich: ‚Mein Herr, erbarme Dich ihrer (ebenso mitleidig), wie sie mich als Kind aufgezogen haben‘.“ (Sura Al-Isra‘, Ayat 23-24)
Und in Sura Al-Ahqaf, Verse 15-16 heißt es: „Und Wir haben dem Menschen anbefohlen, gegen seine Eltern gütig zu sein. Seine Mutter trug ihn unter Mühsalen, und unter Mühsalen brachte sie ihn zur Welt. Und ihn zu tragen und ihn zu entwöhnen erfordert dreißig Monate, bis er dann, wenn er seine Vollkraft erlangt und vierzig Jahre erreicht, sagt: „Das sind die, von denen Wir die guten Werke annehmen, die sie getan haben, und deren üble Werke Wir übergehen. (Sie gehören) zu den Bewohnern des Paradieses – in Erfüllung der wahrhaftigen Frohbotschaft, die ihnen verheißen wurde.“
Das ist die Lösung des Islam. Das Kind muss seine Eltern in finanzieller Hinsicht versorgen und ihnen in jeder anderen Hinsicht gütig zur Seite stehen. Dies ist definitiv eine Pflicht der Kinder. Aber nicht nur das; es muss sie respektieren; sie ehren; sie hüten und sie betreuen; das Kind soll für sie in Barmherzigkeit „den Flügel der Demut“ senken, um ihnen ein Selbstwertgefühl zu geben. So löst der Islam das Altersproblem – als ein soziales Problem, als ein menschliches Problem, weil auch alte Menschen Gefühle haben und nicht nur gefüttert und gewaschen werden müssen. Und so bewahrheitet sich die Aya im Qur’an, in welcher Allah (s.w.t.) sagt: „Und wahrlich, wir haben dich nur als Gnade an die Weltenbewohner entsandt!“ (Sura Al-Anbiyaa, Aya 107)