Die islamische Geschichte sollte nicht ausschließlich aus historischem Interesse studiert werden, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der Anwendung des Islam analysiert und Lehren daraus gezogen werden.
Die Information als solche hat kaum einen Wert, wenn aus ihr keine Lehre gezogen wird. Dies gilt auch für die islamische Geschichte. In diesem Fall spielt es keine Rolle, ob sie in einem Buch oder im Gedächtnis gespeichert ist. Es geht bei dem Studium der islamischen Geschichte sowohl darum, die Vorteile der islamischen Regierungsform anhand der Praktizierung der islamischen Gesetze zu erkennen als auch die Fehler, die im Laufe der Zeit aufgetreten sind. Denn jene, die die islamischen Gesetze anwendeten, waren Menschen, die vor Fehlern nicht gefeit waren.
Nichtsdestotrotz gilt es, diese Fehler in der Zukunft zu vermeiden und ein rechtgeleitetes Kalifat anzustreben. Aus der Betrachtung der islamischen Geschichte werden zudem die Gefahren ersichtlich, denen die Muslime in der Vergangenheit begegnet sind. Wichtig zu wissen ist hierbei, wie die Muslime damals mit diesen Fehlern umgegangen sind und wie sie auf bestimmte Gefahren reagiert haben, um diese Erfahrungen für das kommende rechtgeleitete Kalifat zu verwerten. Die islamische Geschichte sollte daher immer mit Blick auf die nahende islamische Herrschaft untersucht werden. Sie darf nicht auf eine bloße Zeittafel reduziert werden.
Die Ambition, das Kalifat wiederzuerrichten, sollte immer mit dem Ziel verknüpft sein, ein rechtgeleitetes Kalifat zu gründen, das nicht mit den Fehlern der Vergangenheit behaftet ist. Nicht ohne Grund spricht man vom rechtgeleiteten Kalifat der ersten vier Kalifen und dem daran anknüpfenden Kalifat ohne das Attribut „rechtgeleitet“, wodurch der Beginn der groben Fehler markiert wird, die von den Kalifen begangen wurden, die auf die rechtgeleiteten Kalifen folgten. Deshalb muss die Umma aus ihrer eigenen Geschichte lernen. Tut sie es nicht, so hat sie am Ende die Nachteile zu tragen.
Wirft man einen Blick auf die ersten Abschnitte islamischer Geschichte, so muss man sich beispielsweise fragen, wie es der rechtschaffene omaijadische Kalif ‚Umar Ibn Abdulaziz geschafft hat, den Zwist unter den Muslimen (Fitna) einzudämmen, die durch die Machtergreifung der Omaijaden herbeigeführt wurde, obwohl seine Herrschaft nicht länger als zwei Jahre und zwei Monate dauerte. Wie konnte er die Fitna überwinden und zu allgemeiner Beliebtheit gelangen, obwohl das Blut noch nicht getrocknet war, das am Omaijadengeschlecht noch klebte?
Auf welche Art und Weise hat er die blutigen politischen Auseinandersetzungen zwischen den Charidschiten und den Omaijaden beenden können, ohne dass er sie explizit dazu auffordern musste? Die Muslime waren trotz ihrer vorherigen Unstimmigkeiten untereinander einstimmig zufrieden mit Umar Ibn Abdulaziz, der im Grunde nichts weiter tat, als sich an Wahrheit und Recht zu halten. Sind die Muslime heute in der Lage, es diesem Kalifen gleichzutun und beispielsweise die von den amerikanischen Besatzern verursachte Fitna im Irak zwischen Schiiten und Sunniten zu beenden? Werden es die Muslime nach Wiedererrichtung des Kalifats schaffen, die Mauern innerhalb der Umma niederzureißen, die von den Nichtmuslimen errichtet wurden?
‚Umar Ibn Abdulaziz, der zwischen 717 und 720 n. Chr. regierte, war der festen Überzeugung, dass das Verhalten der Staatsbürger immer vom Verhalten des Staatsoberhauptes abhängt. Begegnet der Kalif den Menschen in Güte, so reagieren sie mit derselben Güte, kommt er ihnen jedoch sündhaft und ungerecht entgegen, so wird die Reaktion der Menschen nicht anders sein, ganz nach dem Leitsatz: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Die Bürger spiegeln im Grunde nur ihren Herrscher wieder. Eine korrupte Gesellschaft ist nichts weiter als das Resultat einer korrupten Regierung. So sind z. B. die Mafia und die weit verbreite Korruption in Italien das Ergebnis einer Regierung, die jahrzehntelang in diese Machenschaften verstrickt war.
Vom ersten Tag seines Amtsantritts an hat ‚Umar Ibn Abdulaziz deutlich gemacht, dass er einen anderen Weg einschlagen würde als den seiner omaijadischen Vorgänger. So lehnte er den bisherigen Luxus seiner Vorgänger vollkommen ab und führte ihn der Staatskasse zu. Beispielsweise verzichtete er zur Verwunderung aller auf das übliche Kalifengespann, verlangte nach seinem Maultier und befahl, das Gespann und alles, was dazugehörte, zu verkaufen und ebenfalls der Staatskasse zu geben. Er lehnte jeden Reichtum ab und übertrug sogar den Schmuck seiner Frau der Staatskasse. Insgesamt standen ihm gerade einmal zwei Dirham täglich zur Verfügung.
Hatte er Bedürfnisse, die darüber hinausgingen, so weigerte er sich hartnäckig, sich aus der Staatskasse zu bedienen. Er leistete sich nichts, was den Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden Geldes sprengte. Es kam sogar vor, dass er sich nicht einmal Trauben leisten konnte und seine Frau um einen Dirham bat. Obwohl Umar Ibn Abdulaziz das Amt des Kalifen innehatte, unterschied er sich, was den Wohlstand anging, kaum vom gewöhnlichen Bürger. Mit diesem Verhalten schloss er jeden Verdacht aus, sich wie andere durch sein Amt bereichern zu wollen. Er vermied jede Form eines aufgesetzten Herrschergebarens und verzichtete auf jegliche Herrscheretikette der bisherigen Omaijadenkalifen.
Ein Staatsoberhaupt wie Umar Ibn Abdulaziz wirkt fast wie eine Märchengestalt, da man die heutige Realität mit ihren negativen Beispielen als Maßstab nimmt bzw. nur diese kennt. So sind die aktuellen Staatsoberhäupter in der islamischen Welt bekannt für ihre Raffgier und ihre Tyrannei. Und auch die westlichen Machthaber sind mehr auf ihre finanzielle Absicherung bedacht als auf das Wohl ihrer Bürger. Die Biographie von ‚Umar Ibn Abdulaziz sollte die Staatsoberhäupter vor allem in der islamischen Welt beschämen, deren Rolle ausschließlich darin besteht, ihre Bürger dem Westen zum Fraß vorzuwerfen. Nicht ihre Beliebtheit hält sie an der Macht, sondern ihre Sicherheitsschergen und ihr westliches Rückgrat.
Die Ungerechtigkeiten der Umaijaden wurden von ‚Umar Ibn Abdulaziz auch explizit als solche benannt, und er verurteilte seine Vorgänger dafür. Von den Menschen forderte er explizit so lange den Gehorsam, solange er selbst Allah gehorchte. Sollte er Allah gegenüber ungehorsam sein, gestand er ihnen das Recht zum Ungehorsam ihm gegenüber zu. Das heißt, er sah seinen Herrschaftsanspruch allein in der Anwendung des Islam und seiner Gesetze legitimiert.
Er meinte damit, dass alle herrschaftsrelevanten Handlungen, die von Koran und Sunna abwichen, seine Herrschaft hinfällig machten und die Staatsbürger von der Verpflichtung entband, seinen Befehlen zu gehorchen. Niemand musste bei der Vorstellung den Kalifen zur Rechenschaft zu ziehen um sein leibliches Wohl und sein Leben fürchten, wie es in der heutigen islamischen Welt der Fall ist. Jede Kritik an der Regierung bedeutet Gefängnis, Folter und möglicherweise den Tod.
Wenn eine Angelegenheit der Handlung bedurfte, so wurde sie von ‚Umar Ibn Abdulaziz umgehend eingeleitet, ohne auch nur einen Tag damit zu warten. Ungerechtigkeiten wurden von ihm angegangen und beseitigt. So begab es sich, dass er nach der Beerdigung des Kalifen Sulaiman, der vor ihm regierte, bis zur Verrichtung des Mittagsgebets warten wollte, bevor er sich um die Angelegenheiten der Menschen kümmerte. Als ihn sein Sohn jedoch darauf aufmerksam machte, dass es keine Garantie dafür gebe, dass er bis zum Mittagsgebet noch am Leben sei, küsste der Kalif seinen Sohn auf die Stirn und pries Allah (t) dafür, dass er ihm jemanden schenkte, der ihn islamisch zurechtwies. Daraufhin ließ der Kalif unmittelbar ausrufen, dass jeder, der eine Ungerechtigkeit vorzubringen habe, diese vorbringen solle.
Was Umar Ibn Abdulaziz von den vergangenen omaijadischen Kalifen unterschied, war die Tatsache, dass die Omaijaden keine Privilegien mehr genossen. Er machte den Edlen unter den Omaijaden klar, dass sie denselben Status hätten wie der Rest der Umma, nachdem sie unter den bisherigen umaijadischen Kalifen bevorzugt behandelt wurden. Erstmals war nach dem Ende des rechtgeleiteten Kalifats wieder ein Kalif an der Macht, dem es nicht um das Kalifenamt als solches ging, sondern ausschließlich um die Anwendung der islamischen Gesetze und die Einhaltung der Gebote Allahs (t). Weder versuchte er, sich von der Umma abzuheben, noch ließ er es zu, dass Familienmitglieder sich seine Position als Kalif zunutze machten und Vorteile gegenüber der Umma daraus zogen. Die Umma war für ihn eine Umma, ohne dass sich eine Elite mit besonderen Privilegien herausbilden konnte bzw. ohne dass die bereits vorhandene Elite sich auf ihre alten „Rechte“ berufen konnte.
Die Kalifatsperiode von ‚Umar Ibn Abdulaziz ist ein historischer Beleg dafür, wie die aufrichtige Anwendung der islamischen Gesetze einen negativen Zustand, selbst wenn er bereits mehrere Jahrzehnte währt, zum Positiven wenden und eine Einheit innerhalb der Umma schaffen kann, auch wenn Parteien, wie etwa die Charidschiten und die Umaijaden beim Amtsantritt ‚Umars Ibn Abdulaziz, bis aufs Blut zerstritten sind. Dieser Abschnitt islamischer Geschichte stellt eine kostbare historische Information mit Lehrcharakter dar, denn sie zeigt auf, dass der Status quo der Umma kein Dauerzustand sein muss. Die Realität der Umma in Form von Nationalstaaten ist somit kein Zustand, der hingenommen werden und dem man sich resigniert ergeben muss. Jede Realität – die Geschichte zeigt es – ist wandelbar, wenn der Mensch nur den Willen hat, sie zu verändern. Es ist nicht einmal notwendig, die Geschichte heranzuziehen, um zu belegen, wie veränderbar ein Zustand sein kann.
Die USA führen der Welt vor, wie man die Realität zu seinen Gunsten verändern kann. Warum sollte es also nicht möglich sein, dass die Muslime auf die Realität einwirken und diese zu ihren Gunsten formen, indem sie jene Bedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, die islamischen Gesetze nach dem Beispiel Umars Ibn Abdulaziz anzuwenden. Seine Amtszeit war zwar nicht lang, aber aufgrund der Einhaltung der islamischen Vorschriften effektiv, so dass er innerhalb kürzester Zeit die Einheit der Umma wiederherstellte.
Unter allen omaijadischen Kalifen ist sein Name bis heute im Gedächtnis der Umma geblieben, und zwar allein aufgrund seiner rechtschaffenen Herrschaft. Es liegt folglich allein bei der Umma, ob sie sich mit einem Mubarak, einem Baschar al-Assad, einem Erdogan usw. zufrieden gibt oder ob sie jemanden wie Umar Ibn Abdulaziz den Vorzug gibt, den die Umma eigentlich verdient. Jedenfalls mangelt es ihr nicht an rechtschaffenen Menschen, denen sie die Regierungsaufgabe übertragen kann.
Die islamische Geschichte sollte nicht ausschließlich aus historischem Interesse studiert werden, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der Anwendung des Islam analysiert und Lehren daraus gezogen werden.
