Ausland Der Irak und das Scheinkalifat

Das Kalifat war für die Muslime von 622 bis 1924 n. Chr. Realität. Sie kannten für sich selbst keine andere Staatsform und zogen es auch nicht in Erwägung, den islamischen Staat abzuschaffen und durch eine andere Staatsform zu ersetzen.

Das Kalifat war für die Muslime von 622 bis 1924 n. Chr. Realität. Sie kannten für sich selbst keine andere Staatsform und zogen es auch nicht in Erwägung, den islamischen Staat abzuschaffen und durch eine andere Staatsform zu ersetzen. Dieser Gedanke wäre für sie genauso abwegig gewesen wie die Frage nach der Abschaffung des Gebets oder des Fastens.
Die Abschaffung des Kalifats basierte daher nicht auf dem Mehrheitswillen der Umma, sondern ist als Zerstörung durch wenige zu werten, die von den europäischen Kolonialmächten zu diesem Zweck auf dem politischen Schachbrett positioniert wurden – an ihrer Spitze Mustafa Kemal. Deshalb versetzte das Ende des Kalifats die Umma in einen Schockzustand und zog ihr im wahrsten Sinne den islamischen Boden unter den Füßen weg.
Mit der Zeit gewöhnten sich die Muslime an ihren desolaten Zustand, wobei ihnen die Ursache ihrer Misere nicht mehr bewusst war. Die Abwesenheit des Kalifats wurde zur Realität der Muslime, und so vergaßen sie das Kalifat als alternativlose islamische Staatsform. Dazu trugen auch die Kolonialmächte tatkräftig bei, deren Ziel es war, nicht nur den islamischen Staat zu vernichten, sondern auch alle Daten darüber von der Festplatte der Muslime dauerhaft zu löschen. Die bloße Idee vom Kalifat sollte aus dem islamischen Gedächtnis verschwinden.
Allerdings übersahen die Gegner des Kalifats, dass die Kalifatsidee im Gegensatz zum Kalifat unzerstörbar ist und dem Vergessen ein Erinnern folgt. Die jahrzehntelangen Versuche des Westens können inzwischen als vollständig gescheitert betrachtet werden, die Idee des Kalifats unwiderruflich zu vernichten. Heutzutage ist die Kalifatsidee weder den Muslimen noch den Nichtmuslimen fremd. Noch nie stand sie seit der Vernichtung des islamischen Staates so im Mittelpunkt.
Die erneute Gründung des Kalifats, die in den Offenbarungstexten angekündigt wird, wird zu den großen politischen Ereignissen der Menschheit gehören. Die Machtverhältnisse, wie man sie heute kennt, werden sich grundlegend und dauerhaft verändern, sobald die islamische Staatsmacht Form angenommen hat und der Westen den Muslimen nicht mehr als Kolonialmacht gegenübersteht, sondern auf einen autonomen Gegner trifft. Die Schatzkammer der Muslime, aus der sich der Westen bislang freizügig bedient, wird sich nach langer Zeit schließen und den Westen vor existentielle Probleme stellen, ohne dabei auf ein Netz von Vasallen, das er in der islamischen Welt geknüpft hat, zurückgreifen zu können. Denn darum geht es dem Westen neben der grundsätzlichen Ablehnung der islamischen Lebensordnung bei der Unterdrückung aller Bestrebungen zur Gründung des Kalifats: den uneingeschränkten Zugriff auf die Ressourcen aufrechtzuerhalten.
Angesichts der Tatasche, dass die Gründung des Kalifats die einzige Hoffnung der Muslime darstellt, während der Westen darin seinen größten Albtraum sieht, überraschte die Reaktion beider Seiten, als am 29. Juni das Kalifat im Irak ausgerufen wurde und Abu Bakr al-Baghdadi sich der Weltöffentlichkeit als Kalif vorstellte. Sowohl der Jubel der Muslime als auch der Aufschrei des Westens waren verhalten. Vor allem die auffällige Zurückhaltung des Westens irritierte, da er die Muslime schon für viel weniger mit seiner Kriegsmaschinerie überrollte und ihr Blut vergoss. Schnell drängte sich daher die Frage auf, was mit der Ausrufung des Kalifats nicht stimmt.
US-Präsident Barack Obama wirkte geradezu gelassen. Die politische Brisanz der Ausrufung eines islamischen Staates im Irak und die Reaktion Obamas divergierten. Hier hätte man die höchste Terrorwarnstufe erwarten müssen. Bereits das Vorrücken und der rasante Gebietsgewinn der ISIS im Irak schien die USA nicht aus der Ruhe zu bringen. Ihr Verhalten war also mehr als verdächtig.
Der Ausrufung des Kalifats gingen bereits andere bedeutende Ereignisse voraus, bei denen man von den USA weitaus mehr Drohgebärden und militärisches Engagement erwartet hätte. Am 10. Juni nahm die ISIS fast kampflos die Stadt Mosul ein, die die zweitgrößte Stadt im Irak ist. Etwa 30.000 Soldaten der irakischen Armee flohen und ließen Waffen und Uniformen zurück, obwohl die Zahl der ISIS-Kämpfer lediglich einige Hundert betragen haben soll. Nur einen Tag später nahm die ISIS Baidschi und Tikrit ein. In Baidschi befindet sich die größte Ölraffinerie des Irak. Später kam Tal Afar, das sich im Grenzgebiet zu Syrien befindet, hinzu. Darüber hinaus übernahm die ISIS am 21. Juni die Kontrolle über den wichtigsten Grenzpunktes al-Qa’im zwischen dem Irak und Syrien.
Erstaunlich ist hierbei zum einen das Tempo der ISIS-Erfolge, zum anderen überrascht die kampflose Gebietsübergabe durch die irakischen Soldaten in nahezu allen Regionen, die von der ISIS eingenommen wurden. Den Berichten irakischer Soldaten zufolge kam der Rückzugsbefehl von den Offizieren selbst, was ebenfalls Fragen zum blitzartigen Vormarsch der ISIS aufwirft, die sich im Zuge der Ausrufung des Kalifats in Islamischer Staat (IS) umbenannte.
Bewertet man die Situation anhand der Gebietsgewinne und der scheinbaren Übermacht des IS, dürfte die islamische Gefahr für die Welt nie größer gewesen sein. Dennoch hatte Obama die Entsendung von Bodentruppen von Anfang an ausgeschlossen und nur gezielte Militäraktionen in Betracht gezogen, um die ISIS aufzuhalten, falls die Lage dies überhaupt erfordere. Das Kalifat wurde als inner-irakisches Problem behandelt. Die Entsendung von US-Soldaten sollte lediglich dem Schutz der US-Botschaft und der US-Bürger dienen. Denn die USA könnten, so das Argument, die Probleme des Irak nicht durch US-amerikanische Kampftruppen lösen. Lediglich 300 Militärberater sollten entsandt werden und die irakische Regierung unterstützen. Dieses Verhalten ist für die USA höchst untypisch, wenn tatsächlich eine islamische Gefahr im Irak droht.
Es ist davon auszugehen, dass die USA mit ihrem engmaschigen Geheimdienstnetz über den Verlauf im Irak schon im Voraus genau unterrichtet waren. Die Behäbigkeit ihrer Reaktion und die anfängliche Ablehnung einer militärischen Intervention deuteten darauf hin, dass die US-amerikanischen Pläne für den Irak durch die Gebietsgewinne der ISIS nicht gefährdet schienen. Vielmehr liegt die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten ganz in ihrem Interesse, welches darin besteht, den Irak zu teilen. Daher wird bei der derzeitigen Irakkrise die konfessionelle Problematik stark hervorgehoben. Denn schon lange streben die USA danach, den Irak aufzuteilen.
Der Nordirak hat bereits als Autonome Region Kurdistan einen Autonomiestatus, der durch die zwischen 1991 und 2003 von den USA und Großbritannien eingerichtete Flugverbotszone im Nordirak ermöglicht wurde. Die Einnahme Mosuls durch die ISIS wurde von den Kurden zum Anlass genommen, die Stadt Kirkuk und die umliegenden Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine diplomatische Lösung des Konflikts stand gar nicht zur Debatte. Das Gegenteil ist der Fall, denn der Westen suggerierte der Weltöffentlichkeit, dass die einzige Hoffnung, den IS aufzuhalten, die Bewaffnung der Peschmerga sei, d. h. der kurdischen Einheiten.
Der Zustand der Spaltung, wie er sich heute im Irak darstellt, ist nicht neu und keineswegs ein Resultat des Vorstoßes der IS-Kämpfer. Er ist auch nicht das alleinige Ergebnis der Innenpolitik des zurückgetretenen irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki. Dieser war vielmehr das Instrument der USA, einen Zustand der Spaltung zu forcieren. Denn die Aufteilung des Irak ist ein lange gehegter Plan der USA und ist Teil ihres sogenannten Greater-Middle-East-Projekts, das für den Irak die Spaltung in einen sunnitischen, einen schiitischen und einen kurdischen Staat vorsieht. Wer will da noch an einen Zufall glauben, wenn der IS ausgerechnet jenen Teil unter seine Kontrolle brachte, der als sunnitischer Staat vorgesehen ist, während die Peschmerga jene Gebiete eroberten, die zum kurdischen Staat gehören sollen. Dies alles geschah innerhalb weniger Tage, ohne dass die irakische Armee etwas hätte ausrichten können bzw. sollen.
Die Pläne der USA für den Nahen Osten erlauben die Schlussfolgerung, dass die Eroberungen des IS durchaus im Sinne der USA waren und konform gingen mit dem Projekt der Aufteilung des Irak. Die Vermutung liegt sogar nahe, dass die USA Einfluss auf die Offiziere der irakischen Armee nahmen und ihren Rückzug veranlassten, um dem IS den Weg freizumachen. Der IS wurde in den US-amerikanischen Plan integriert und leistete sozusagen für die geplante Aufteilung die Vorarbeit im sunnitischen Teil des Irak. Nur so erklärt sich die anfängliche militärische Zurückhaltung der USA, den Vormarsch des IS aufzuhalten.
Die beabsichtigte Krise im Irak hat ihre Wirkung nicht verfehlt, denn die Stimmen nach Regionalautonomie werden immer lauter. Bereits Anfang Juli forderte Muhammad Taha al-Hamdun im Namen der sunnitischen Protestbewegung die Autonomie jener Provinzen, die mehrheitlich von Sunniten bewohnt werden. Andernfalls werde man einen unabhängigen Staat ausrufen. „Es gibt nur eine Lösung: drei Autonomieregierungen unter einer Flagge – eine der Kurden, eine der Schiiten und eine der Sunniten“, sagte Hamdun und diente damit, bewusst oder unbewusst, als Sprachrohr der USA.
Der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi gilt seit 2010 als Führer der ISIS. Auffällig hierbei ist, dass er diese Position nicht lange nach seiner Entlassung aus vierjähriger US-Gefangenschaft im Gefangenenlager Bucca Camp im Südirak einnahm. Merkwürdigerweise soll er ausgerechnet in US-Gefangenschaft mit al-Qaida-Kämpfern trainiert haben. Von ihm existierten bis zur Ausrufung des Kalifats nur zwei verifizierte Fotos: das eine von den USA, das andere vom irakischen Innenministerium – dies wurde zumindest behauptet. Dies wirft natürlich viele Fragen zur Person von al-Baghdadi auf, die undurchsichtig bleibt. Ein regelrechter Mythos wurde um al-Baghdadi aufgebaut, woran die USA nicht ganz unbeteiligt waren. Sein Bekanntheitsgrad bei den Geheimdiensten und sein Status als Topterrorist sagen nichts über seine wahren Absichten aus. Was seine Entscheidung angeht, das Kalifat auszurufen, obwohl die islamrechtlichen Bedingungen hierzu nicht gegeben waren, so ergeben sich daraus zwei Möglichkeiten, seine Absichten zu beurteilen: Entweder hatte er keinerlei Vorstellung vom Kalifat, so dass die Ausrufung des islamischen Staates aus reiner Unwissenheit erfolgte, da al-Baghdadi die islamischen Voraussetzungen zu diesem Akt nicht bekannt waren, oder aber er ist im US-amerikanischen Plan für den Irak involviert. Denn er hat den USA damit gute Dienste geleistet.
Was die Beurteilung des Kalifats angeht, bleiben jedoch keine Fragen offen, denn aus der Scharia geht ganz klar hervor, was das Rechtgeleitete Kalifat ist und wie es zustande kommt. Die Gründung des Kalifats muss der Methode des Propheten (s) zwingend folgen. Abweichungen lässt das islamische Recht nicht zu. Das bedeutet, dass die Anwendung von Gewalt, Zwang und Terror kategorisch ausgeschlossen ist. Der Kalifatsvertrag ist ein Vertrag, der auf beidseitigem Einverständnis zustande kommt. Abu Bakr al-Baghdadi ist weder von den Muslimen zum Kalifen gewählt worden, noch haben sie ihm gehuldigt.
Die richtige Methode wäre im letzten Schritt vor der Ausrufung des Kalifats Talab ul-Nusra gewesen, wie es schon der Prophet (s) bei der Gründung des islamischen Staates in Medina vorgemacht hat. Es ist die Anfrage um Unterstützung bei jenen, die entscheidende Positionen im Staat und in der Gesellschaft besetzen, mit Befugnissen ausgestattet sind und Autorität besitzen. Hierzu zählen z. B. Offiziere und Generäle der Armee sowie einflussreiche Persönlichkeiten in der Gesellschaft. Die Gründung des rechtgeleiteten Kalifats kann nur mit dem militärischen Rückhalt und dem klaren Einverständnis der Bevölkerung erfolgen.
Man braucht kein islamischer Rechtsgelehrter zu sein, um zu erkennen, dass die Ausrufung des Kalifats im Irak eine Farce ist. Wenn es denn tatsächlich ein Kalifat wäre, so wäre es ein islamischer Staat ohne Körper. Es fehlen jegliche staatlichen Strukturen, um von einem Kalifat sprechen zu können. Das Ergebnis ist, dass das vermeintliche Kalifat im Irak gar nicht in der Lage ist, die staatlichen Aufgaben wahrzunehmen und die Scharia in allen Bereichen anzuwenden. Es bedarf also viel mehr als einer Person, die quasi aus dem Nichts auftaucht, in einer Audiobotschaft einen islamischen Staat ausruft und sich dann wieder zurückzieht.
Al-Baghdadi und sein Scheinkalifat bieten den Muslimen im Irak keinerlei Schutz. Vielmehr hat sich al-Baghdadi nach der Ausrufung des Kalifats aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und die Sicherheitslage in einem noch chaotischeren Zustand zurückgelassen. Das belegt, dass er sich in seinem eigenen Kalifat nicht sicher fühlt und die Öffentlichkeit meiden muss. Ein rechtgeleiteter Kalif muss aber präsent sein und den Schutz und die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten.
Der Westen hat es nicht geschafft, die Kalifatsidee auszulöschen. Deshalb versucht er, eine vollkommen falsche Vorstellung vom Kalifat zu vermitteln. Ihm kommt es zugute, dass das Scheinkalifat im Irak nicht als solches hinterfragt wird und die Frage nach seiner Konformität mit der Scharia öffentlich nicht aufgeworfen wird. Das Scheinkalifat im Irak lässt Muslime wie Nichtmuslime glauben, dass das Kalifat eine Schreckensherrschaft der Gewalt und des Terrors sei. Weil es ein Scheinkalifat ohne Staatsapparat und ohne Macht ist, das im Irak keine positive Veränderung herbeigeführt hat, entsteht der Eindruck, dass das Kalifat nichts Besonderes und Erstrebenswertes sei. Den Muslimen wird suggeriert, dass das Kalifat ihre Situation nicht zu verbessern und ihre Probleme nicht zu lösen vermag. Damit will man sie von der Kalifatsidee wegführen. An ihrer Zerstörung sind die Nichtmuslime gescheitert. Daher versuchen sie diese zu verfälschen, indem sie eine Realität schaffen, die das Versagen des Kalifats vorführt, wie es im Irak der Fall ist. Das Scheitern liegt jedoch nicht im Kalifat als Staatsform begründet, sondern darin, dass das, was al-Baghdadi ausgerufen hat, gar kein islamischer Staat ist. Es ist noch nicht einmal irgendein Staat.
Im Irak – und nicht nur dort – sollten die Muslime durch die Enttäuschung über das Scheinkalifat dazu gebracht werden, die Kalifatsidee aufzugeben. Darüber hinaus sollte die Teilung des Irak, von der die USA nicht abrücken werden, bei den Menschen etabliert werden. Das Teilungsprojekt der USA ist so lange nicht gefährdet, solange die Krisen und Konflikte im Irak regional eingegrenzt bleiben. Deshalb ließen Sie die Organisation IS im Sunnitengebiet gewähren und das Scheinkalifat entstehen. Dies änderte sich aber, als der IS erstmals kurdisches Gebiet angriff und darüber hinaus den Mosul-Staudamm am 9. August unter seine Kontrolle brachte. Hier reichte es nicht mehr aus, die Kurden mit modernen Waffen auszustatten. Nun kam es doch zu US-Luftangriffen, um den IS aus der Region zurückzudrängen, in der die Sunniten laut US-amerikanischem Plan für den Irak nichts zu suchen haben. Bereits durch die Entsendung von US-Soldaten zum Schutz der US-Botschaft wurde ein deutliches Zeichen gesetzt, dass Bagdad ebenfalls für den IS eine Tabuzone darstellt.
Die US-amerikanische Irakpolitik muss vor dem Hintergrund ihres Teilungsvorhabens für den Irak gesehen und bewertet werden. Wie engagiert oder wie zurückhaltend der Kampf der USA gegen den IS im Irak ist, hängt immer davon ab, welche Maßnahme gerade angebracht ist, um die Teilung des Irak voranzutreiben. Dies kann sich von Zeit zu Zeit ändern. Eine bewaffnete Miliz wie der IS ist nicht in der Lage, eine Einheit im Irak zu schaffen und die Zerstückelung des Irak aufzuhalten. Ihre Erfolge sind im Grunde nur ein Trug. Sie basieren darauf, dass die USA sie gewähren ließen, bis sie schließlich den Fehler der regionalen Überschreitung machten. Der US-Plan ist einzig durch ein Rechtgeleitetes Kalifat zu durchkreuzen, das nicht nur die Einheit im Irak wiederherstellt, sondern die Zerstückelung der gesamten islamischen Welt rückgängig macht.