Es wäre äußerst naiv, auf die Berichterstattung westlicher Medien zu vertrauen und Russland für den Schuldigen zu halten. Russland ist nur eine von mehreren Mächten, für die die Ukraine von äußerst großem Interesse ist. Daneben gibt es nämlich noch zwei weitere Hauptakteure: Europa und die USA. Auch für sie ist die Ukraine von unverzichtbarem Wert. Ihre Interessen sind keineswegs moralischer als die Russlands und haben mit Demokratie und Freiheit rein gar nichts zu tun. Zwar haben Europa und die USA die gemeinsame Ambition, eine politische Distanz zwischen der Ukraine und Russland zu schaffen, doch darüber hinaus hat jede Macht noch ganz eigene Interessen. Deshalb versucht jede Seite, die Ukraine an sich zu binden.
Das Tauziehen Russlands, Europas und der USA hat nicht erst mit den Protesten im Jahr 2013 begonnen. Vielmehr sind die Proteste nur ein Resultat dieses politischen Tauziehens. Um die politischen Ereignisse in der Ukraine zu verstehen, muss man im Grunde mehr als zwei Jahrzehnte zurückblicken.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Ukraine 1991 unabhängig. Ihre staatliche Unabhängigkeit führte zu der Frage nach ihrer politischen Orientierung. Das heißt, mit der Unabhängigkeit der Ukraine haben die bereits erwähnten Mächte ihre Chance gesehen, das Land für sich zu gewinnen. Es war nicht mehr Teil einer kommunistischen Großmacht und somit freigegeben für Manipulationen und politischen Einflussgewinn. Nach der Auflösung der Sowjetunion war es den USA und Europa endlich möglich, um die Ukraine zu buhlen.
Für die USA ist die Anbindung der Ukraine vor allem an den Eintritt in die Nato geknüpft, die bekanntlich ein Instrument der USA ist und ihrem Einfluss unterliegt. Auf europäischer Seite versucht man die Ukraine an sich zu binden, indem man ihren Eintritt in die Europäische Union (EU) vorantreibt. Noch ist es aber nicht dazu gekommen, so dass die politische Ausrichtung der Ukraine noch nicht endgültig entschieden ist. Dies spiegelt sich in den aktuellen Ereignissen wider.
Beides, sowohl der Eintritt der Ukraine in die Nato als auch eine Mitgliedschaft in der EU, würde für Russland nicht nur einen Verlust des eigenen politischen Einflusses in der Ukraine bedeuten; es hieße vor allem auch, dass Russland damit seine Pufferzone verlöre und den US-amerikanischen und europäischen Einfluss unmittelbar an der russischen Grenze hätte. Betrachtet man die Nachbarländer der Ukraine, so wird die Angst Russlands vor dem Einfluss der USA und Europas verständlich. Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänen, an die die Ukraine unter anderem angrenzt, sind sowohl Mitglieder der Nato als auch der Europäischen Union. Es sind ehemalige Ostblockstaaten, die die USA und Europa an sich binden konnten. Mit der Ukraine versucht sich Russland diesen Einfluss auf Distanz zu halten. Deshalb wird Russland die Ukraine nicht aufgeben, zumal zwischen Kiew und Moskau nur ca. 750 km Luftlinie liegen. Folglich wird Russlands Präsident Wladimir Putin das Feld nicht kampflos räumen und seinen Kontrahenten überlassen.
Die Ukraine ist für Russland nicht nur deshalb von Interesse, weil sie als Pufferzone zu jenen Ländern dient, die sich an Europa und den USA orientieren und ihrem Einfluss unterliegen. Russlands Schwarzmeerflotte hat ihren Hauptstützpunkt in der Hafenstadt Sewastopol, die zur Ukraine gehört und sich auf der Krim befindet. Dieser Marinestützpunkt stammt noch aus sowjetischen Zeiten. Zunächst teilten sich Russland und die Ukraine die Flotte. Später verkaufte die Ukraine den größten Teil an Russland. 1995 unterzeichneten Russland und die Ukraine ein Abkommen, in welchem man Sewastopol als russischen Marinestützpunkt festlegte und Russland erlaubte, die militärische Infrastruktur der Krim zu nutzen. Zwei Jahre später kam es zu einem weiteren Abkommen, worin Russland die militärischen Anlagen für die nächsten 20 Jahre pachtete, d. h. bis zum Jahr 2017. 2010 wurde die Stationierung der russischen Flotte auf der Krim schließlich auf das Jahr 2042 verlängert.
Die Ukraine gehört zu jenen Ländern, bei denen die Frage naheliegt, ob es dort irgendwelche Energievorkommen gibt oder ob vielleicht irgendwelche Transportwege durch das Land führen. Russland geht es im Fall der Ukraine natürlich nicht nur um die Schwarzmeerflotte. Es transportiert sein Erdgas durch die Ukraine und beliefert über die Pipelines dort nicht nur die osteuropäischen Länder, sondern die EU insgesamt. Gas kann im Gegensatz zu Öl nur über Leitungen transportiert werden, d. h., Russland ist von dem Leitungsnetz in der Ukraine abhängig und hat daher ein großes Interesse daran, dieses Netz zu kontrollieren.
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Russland es sich nicht leisten kann, seinen Einfluss in der Ukraine aufzugeben, und es wird immer wieder Maßnahmen ergreifen, um seinen politischen Einfluss aufrechtzuerhalten. Denn die Ukraine ist das Land mit der größten Bedeutung für Russland.
Dies sind im Wesentlichen die Beweggründe Russlands, sich in die Politik der Ukraine einzumischen und diese steuern zu wollen. Auch Europa und die USA haben aus ihrer Sicht gute Gründe, politische Fäden in der Ukraine zu spannen, um diese gemäß den Interessen ziehen zu können. Für die EU spielt natürlich das Erdgas die größte Rolle, denn sie bezieht etwa ein Viertel ihrer Energielieferungen aus Russland. Darüber hinaus stellt die Ukraine eine Brücke zwischen Europa und Russland dar, denn die meisten an der Ukraine angrenzenden Staaten sind bereits in der Europäischen Union. Deshalb strebt Europa mit allen Mitteln den Eintritt der Ukraine in die EU an.
Für die USA ist es wichtig, den russischen Einflussbereich zu minimieren und diesen sozusagen zu umzäunen. Zudem sind die Häfen der Ukraine von Bedeutung für die Nato, um freien Zugang zum Schwarzen Meer zu bekommen. Daraus erklärt sich, weshalb die USA mit Nachdruck versuchen, die Ukraine für die Nato zu gewinnen.
Der Vertrag zur Verlängerung der Stationierung Russlands auf der Krim wurde von dem inzwischen abgesetzten Viktor Janukowytsch, der 2010 Präsident der Ukraine wurde, unterzeichnet, so dass nachvollziehbar wird, dass Russland an seiner Absetzung kein Interesse hatte. Das Gegenteil ist der Fall. Janukowytsch setzte die russischen Interessen durch, indem er einen Beitritt in die Nato ablehnte. Ende 2013 erteilte er auch dem Assoziationsabkommen mit der EU eine Absage, was als Auslöser für die Proteste in der Ukraine betrachtet wird, auch bekannt unter der Bezeichnung Euromaidan.
Auf Druck der USA und der EU wurde am 21. Februar 2014 eine Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine in Kiew unterzeichnet. Die Vereinbarung beinhaltet unter anderem, dass die Verfassung von 2004 wieder eingeführt wird.
Das Jahr 2004 war das Jahr der Orangen Revolution in der Ukraine. Hierzu kam es nach dem Wahlergebnis im Oktober 2004 zwischen den Kandidaten Viktor Janukowytsch und Viktor Juschtschenko, von denen jeder knapp mehr als 39 Prozent erlangte. Die Stichwahl zwischen beiden Kandidaten hat schließlich zu Protesten geführt, weil man sich über das Wahlergebnis uneins war. Offizielle Wahlergebnisse machten Janukowytsch als Wahlsieger aus. Exit Polls hingegen, d. h. Wahlbefragungen, die als Grundlage für Hochrechnungen am Wahltag vorgenommen werden, erklärten im Gegensatz zum offiziellen Wahlergebnis Juschtschenko zum Sieger.
Es gab Hochrechnungen, die ebenfalls Janukowytsch als Wahlsieger betrachteten und somit dem offiziellen Wahlergebnis entsprachen. Juschtschenko und seine Anhänger versteiften sich jedoch auf jene Wahlumfrage, die ihm einen deutlichen Vorsprung zusprach. Bezeichnend ist hierbei die Tatsache, dass genau diese Umfrage von europäischen Staaten und natürlich auch von den USA finanziert wurde. Das Ergebnis dieser Umfrage wurde nicht nur von Juschtschenko und seinen Anhängern, sondern auch von internationaler Seite zum Anlass genommen, von Wahlbetrug zu sprechen.
Um zu verstehen, was heute in der Ukraine geschieht, ist es wichtig, einen Blick darauf zu werfen, von wem die Orange Revolution gelenkt wurde. Hinter den Aktivisten standen westliche Berater und Helfer, finanziert und unterstützt von westlichen Regierungen, Agenturen und Organisationen. Sowohl Europa als auch die USA haben die Orange Revolution initiiert, die Leute professionell ausgebildet und natürlich auch finanziert. Die zig Millionen, die aus den USA in die Ukraine geflossen sind, sind kaum überschaubar. Am Ende lohnte sich aber diese Investition: Juschtschenko kam an die Macht. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb die Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine die Verfassung aus dem Jahr 2004 wieder einführen will.
Als Europa und die USA Ende 2007 und 2008 von der Wirtschaftskrise erfasst und von diesem Problem völlig eingenommen wurden, sah Russland seine Chance gekommen, das Ruder wieder rumzureißen. Russland versuchte mit dem Gas, Druck auf die Ukraine auszuüben. 2008 drosselte der russische Gaskonzern Gazprom die Gaslieferungen an die Ukraine, da diese ihre Schulden noch nicht beglichen hätte. Die Intention Russlands war es, durch den Druck zur Begleichung der ukrainischen Gasschulden und die Drosselung der Gaslieferungen sowie durch die Anhebung der Gaspreise eine negative Stimmung gegen Juschtschenko herbeizuführen und diese anzuheizen. Als schließlich die Präsidentschaftswahlen 2010 anstanden, ging Janukowytsch als Sieger hervor, so dass die Ukraine sich wieder Russland annäherte und ihre Beziehung sich vertiefte.
Jedoch war der Wahlsieg Janukowytschs in der Stichwahl mit Julja Tymoschenko nur knapp mit einem Unterschied von etwa 3 Prozent. Das heißt, die Wahl wurde zwar zu Russlands Gunsten entschieden, aber nicht in der Weise, dass es sich seines politischen Einflusses in der Ukraine sicher sein konnte. Das knappe Ergebnis spiegelt wider, dass sich die Anhänger Russlands auf der einen Seite und die Sympathisanten Europas und der USA auf der anderen Seite im Grunde die Waage halten. Es ist daher immer eine Frage der Maßnahmen, welche dieser Mächte letztendlich die politische Situation zu ihren Gunsten beeinflussen kann.
Eine solche Maßnahme war z. B. jene der Bundesregierung, Vitali Klitschko als Präsidentschaftskandidaten in der Ukraine aufzubauen. Klitschko ist nichts anderes als das außenpolitische Produkt der Bundesregierung. Seine 2010 gegründete Partei UDAR soll im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung entstanden sein und wird von dieser bis heute unterstützt. Klitschkos Treffen und Auftritte mit ranghohen deutschen Politikern fanden aus PR-Zwecken statt, etwa mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Seine Kandidatur zog Klitschko allerdings zurück, um Petro Poroschenko den Vortritt zu lassen, der auserkoren wurde, die westlichen Interessen durchzusetzen.
Die Relevanz der Ukraine für Russland spiegelt sich in den Ereignissen nach der Absetzung Janukowytschs am 22. Februar wider, der trotz seiner Einwilligung in Neuwahlen seines Amtes enthoben wurde. Putin hielt sich nicht erst mit diplomatischen Versuchen auf, der veränderten politischen Situation in der Ukraine Herr zu werden, sondern reagierte mit einer Militärübung an der Grenze zur Ukraine. Außerdem kam es im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der neuen Führung in der Ukraine zur Besetzung Simferopols, der Hauptstadt der Krim, durch prorussische Milizen. Die Ereignisse überschlugen sich geradezu. Bewaffnete, deren Uniformen kein nationales Erkennungszeichen aufwiesen, übernahmen die Kontrolle über zwei Flughäfen auf der Krim. Die Ukraine warf Russland, dessen Parlament am 1. März der Entsendung von Truppen in die Ukraine zustimmte, vor, bereits mehrere Tausend Soldaten und Panzerfahrzeuge auf die Krim verlegt zu haben. Ukrainische Soldaten wurden dort in ihren Kasernen festgehalten. Sie mussten schließlich von der Krim abziehen. Es galt also zunächst, die militärische Kontrolle über die Krim zu erlangen bzw. aufrechtzuerhalten.
Gleichzeitig sollte der Anschein erweckt werden, dass all dies in Einklang mit dem Willen der Bevölkerung geschehen sei. Am 11. März stimmte das russlandtreue Parlament auf der Krim für eine Abspaltung von der Ukraine, um als unabhängiger Staat Russland beizutreten. In einem Referendum sollte die Bevölkerung auf der Krim darüber entscheiden und stimmte am 16. März mit einer Mehrheit für einen Anschluss an Russland. Putin stufte das Referendum als demokratisch ein und erkannte die Unabhängigkeit der Krim an, wobei Sewastopol einen Sonderstatus genießt.
Europa und die USA erkannten hingegen das Referendum nicht an und drohten mit weiteren zu den bereits bestehenden Sanktionen gegen Russland. Auch sie blieben militärisch nicht untätig. Noch vor dem Referendum hielten Rumänien und Bulgarien zusammen mit den USA Marinemanöver vor der Krim ab. US-Kampfjets wurden nach Polen verlegt, wo bereits Luftwaffenmanöver gestartet wurden. Darüber hinaus setzte die Nato AWACS-Aufklärungsflugzeuge ein, um den Luftraum um die Ukraine herum zu kontrollieren. Auch kündigten die USA an, ihre Truppen in Osteuropa aufzustocken.
Daneben gab es die Meldung, dass die Ukraine ihre Goldvorräte in die USA gebracht hätte, womit sich die USA die finanzielle Kontrolle über die Ukraine sichern. Die finanziellen Maßnahmen sind ebenso wichtig wie die militärischen. Aus diesem Grund fiel auch die finanzielle Zuwendung von US-amerikanischer und europäischer Seite großzügig aus. Unmittelbar nach der Absetzung Janukowytschs stellten die USA und der IWF der Ukraine Finanzhilfen in Aussicht. Gleiches taten die EU-Kommission und die Weltbank.
Mit dem neu gewählten Präsidenten Poroschenko hat die Ukraine wieder ein Staatsoberhaupt, das in die EU will und zudem das US-amerikanische Wohlwollen genießt. Russland kündigte daraufhin an, der Ukraine ihre Handelserleichterungen mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zu entziehen, sollte sie das Assoziationsabkommen mit der EU zum Abschluss bringen.
Das Tauziehen zwischen Russland, Europa und den USA um die Ukraine ist also noch lange nicht entschieden. Keine dieser Mächte wird sich geschlagen geben. Zu wichtig ist die Ukraine für alle Beteiligten.
Die aktuelle politische Situation in der Ukraine und die Krise, die das Land derzeit erschüttert, legen wie die meisten Konflikte in der Welt offen, dass in der Regel Außenstehende das politische Geschehen lenken. Die Ukraine ist ein klassisches Beispiel dafür, wie das Tauziehen der Mächte, die jeweils bestimmte Interessen in der Ukraine verfolgen, Einfluss auf das politische Schicksal des Landes nehmen. Jede dieser Einflussmächte möchte die politische Gestalt der Ukraine zu ihren Gunsten formen, auch wenn dies auf Kosten der Bevölkerung geht und Menschenleben kostet.
