Offiziell steht der Westen für demokratische Werte, und die Öffentlichkeit zweifelt kaum daran, dass sich westliche Staaten innen- wie außenpolitisch strikt an diesen Werten orientieren. So einfach dieses Prinzip auf den ersten Blick erscheint, so inkonsequent sieht die politische Praxis bezüglicher dieser Werte jedoch aus, ohne dass die Öffentlichkeit die Widersprüche darin erkennt oder erkennen will, obwohl sie so offensichtlich sind.
Diese Widersprüche liegen im eigentlichen Grundsatz westlicher Politik begründet: Jede Alternative zum Islam und den sogenannten „Islamisten“ muss forciert werden, mag sie dem Prinzip von Demokratie und Freiheit noch so widersprechen. Denn die Demokratie ist nur eine Begleiterscheinung des Kapitalismus, der Triebfeder westlicher Politik, die den Profit in den Mittelpunkt des politischen Handelns rückt. Der kapitalistische Westen muss sich gegen den Islam durchsetzen, weil er sonst seinen Einfluss in den ressourcenreichen und strategisch wichtigen Regionen der Welt verliert. Für seine kapitalistischen Motive verkauft er seine demokratische Seele.
Die Komplizenschaft von Politik und Medien hat dazu geführt, dass selbst der klassische Diktator zu einer vertretbaren Option werden konnte, sofern er die Altnative zu den „Islamisten“ darstellt. So blieb der zu erwartende öffentliche Aufschrei im demokratischen Westen aus, als die falschen „Freunde Syriens“ die Mitbeteiligung des syrischen Diktators Bashar al-Assad an einer Übergangsregierung für alternativlos erklärten. Die USA machten sich nicht einmal die Mühe, Bashar al-Assad ein demokratisches Kostüm überzuziehen. Dies wäre angesichts seiner öffentlich gewordenen Gräueltaten ohnehin nicht möglich. Solange er ihren politischen Einfluss in der Region garantiert, darf er Bomben auf das Prinzip von Demokratie und Freiheit abwerfen.
Warum sich der Iran von Anfang an auf die Seite Bashar al-Assads schlug und ihn aktiv in seinen Kriegsverbrechen gegen das syrische Volk unterstützte, wenngleich er noch nicht einmal den islamischen Glauben trägt, sollte ebenfalls Fragen aufwerfen. Damit befand sich der Iran auf der gleichen politischen Linie wie die USA, und zwar lange vor dem Atomabkommen zwischen beiden Staaten. Diese Tatsache lässt bestimmte Rückschlüsse zu, dass nämlich schon seit Jahren ein Einvernehmen zwischen den USA und dem Iran besteht, offiziell aber das Bild des radikalen Iran gezeichnet wurde, der Israel vernichten will, um die Grenze zwischen dem fingierten demokratischen Guten und dem islamischen Bösen nicht zu verwischen.
2009 hatten die USA nach den iranischen Präsidentschaftswahlen, aus denen Mahmud Ahmadinedschad als Sieger hervorging, bewiesen, dass sie gar kein Interesse an einem Führungswechsel im Iran hatten, obwohl Ahmadinedschad immer als radikaler „Islamist“ galt, der offiziell in Feindschaft zu den USA stand. Die Wahlen wurden von heftigen Protesten und Demonstrationen begleitet, in denen die Menschen Demokratie und Freiheit forderten. Dennoch unternahmen die USA nichts, um Ahmadinedschads Herausforderer Mir-Hussein Mussawi zu unterstützen. Vielmehr kommentierte Barack Obama den Wahlausgang seinerzeit damit, dass die Unterschiede zwischen Ahmadinedschad und Mussawi nicht so groß seien wie vielfach angenommen. Was er aber eigentlich damit sagen wollte, war, dass die USA kein Interesse an einem Machtwechsel im Iran hatten, weil der Iran unter Ahmadinedschad inoffiziell mit ihnen kooperierte.
Waren es nicht auch die USA, die Osama bin Laden und die Mudschahidin in Afghanistan in ihrem Kampf gegen die Sowjetunion ausgebildet und finanziert hatten? Damals waren es nicht „Islamisten“, sondern gefeierte Freiheitskämpfer. Inzwischen sind diese ehemaligen Freiheitskämpfer die größte Gefahr für die freiheitlich-demokratische Welt.
Paradox ist auch die Haltung des Westens zu der politischen Situation in Ägypten, hatte man doch den demokratisch gewählten Muhammad Mursi durch einen Militärputsch, wie er im Buche steht, gestürzt und ins Gefängnis geworfen. Seine Anhänger sind der Verfolgung, Folter und Ermordung ausgesetzt. Ägypten ist damit zur klassischen Militärdiktatur geworden, ohne dass der Westen diese politische Entwicklung kritisiert oder gar Drohungen ausgesprochen hätte, um den demokratisch gewählten Mursi wieder freizubekommen. Anstelle des Protestes kam von westlicher Seite die Begründung, dass die islamische Welt noch nicht reif sei für die Demokratie. Zudem schürten die Medien die Angst vor den „Islamisten“, die in Ägypten die unsichere politische Lage ausgenutzt und Armee und Polizei angegriffen hätten.
Der Grund für die Haltung des demokratischen Westens zur Militärdiktatur in Ägypten liegt klar auf der Hand: Diese braucht keine Rücksicht auf demokratische Werte zu nehmen und kann mit aller Härte gegen die Muslime vorgehen, um den Islam, der im Vormarsch ist, zurückzudrängen. Mursi wäre dazu nicht geeignet gewesen, und so musste er einen undemokratischen Abgang von der politischen Bühne machen und den Platz für eine Militärdiktatur räumen. Daher verwundert es nicht, dass Armeechef Abdel Fattah al-Sisi, der in Ägypten die Zügel in Händen hält, nicht nur gute Verbindungen zur Führung der US-Armee hat, sondern auch zum Pentagon.
Wie unreflektiert die Medien das politische Geschehen wiedergeben und die Öffentlichkeit die Berichterstattung aufnimmt, zeigt sich auch am Beispiel Saudi-Arabiens. Kürzlich wurde darüber berichtet, dass Ägypten mit mehreren Milliarden Dollar von Saudi-Arabien unterstützt werde. Entweder wurde die Absurdität saudischer Finanzspritzen an Ägypten bewusst ignoriert, oder niemandem ist das Widersprüchliche darin aufgefallen, was noch viel schlimmer wäre. Warum sollte Saudi-Arabien, ein Land, das aus offizieller westlicher Sicht die Scharia umsetzt und vom Westen immer wieder beschuldigt wird, al-Qaida, Salafisten und „Islamisten“ finanziell zu unterstützen, gleichzeitig Ägypten mehrere Milliarden Dollar zukommen lassen, nachdem das ägyptische Militär Mursi gestürzt hat, eine Hetzjagd gegen Muslime betreibt und sich zur Trennung von Politik und Religion bekennt? Die Finanzhilfe macht nur Sinn, wenn Saudi-Arabien sich in die Schlange jener Länder in der islamischen Welt einreiht, die als westliches Bollwerk gegen den Islam fungieren.
Diese Beispiele belegen zweierlei: zum einen, dass den kapitalistischen Staaten im Westen hinter ihrem demokratischen Vorhang jedes Mittel recht ist, um ihre Interessen in der Welt durchzusetzen. Zum anderen wird deutlich, dass die „islamistische“ Welt eine Erfindung des Westens ist, um ein Bild von guter Demokratie auf der einen und gefährlichem „Islamismus“ auf der anderen Seite zu zeichnen, um hinter dieser Fassade auf gewissenlose Weise kapitalistisch agieren zu können. Anders ausgedrückt, pfeift der Westen auf Demokratie und Freiheit, wenn es darum geht, wirtschaftlichen und politischen Einfluss in der Welt zu gewinnen, diesen aufrechtzuerhalten und auszuweiten.
Immer wieder stellt man fest, dass die breite Öffentlichkeit im Westen das politische Geschehen in der Welt unreflektiert über die Medien aufnimmt. Der intellektuelle Durchschnitt – westliche Journalisten inbegriffen – hat kein Interesse an politischen Hintergründen und an der politischen Wahrheit. Vielmehr gibt man sich mit der Schwarz-Weiß-Malerei zufrieden, die westliche Staaten, allen voran die USA, betreiben. Es ist schlichtweg bequem, von einer Welt auszugehen, die sich in gut und böse unterteilt und in welcher der globale Bösewicht klar definiert ist.
