Mancher fühlte sich unweigerlich an die eiserne Miene Stalins erinnert und sah vor seinem geistigen Auge den Ivan mit Panzern über den Kurfürstendamm und die Champs-Élysées rollen. Genährt wurden diese Befürchtungen von dem allgegenwärtigen Tenor der immerzu schwelende „Kalte Krieg“ sei durch die aktuelle Krim-Krise neu entflammt.
Die jüngste Entsendung von US-Kampfflugzeugen und Aufklärern nach Polen und in das Baltikum, sowie die russischen Militärmanöver nördlich der Ukraine scheinen den Ernst der Lage zu bestätigen. Diesen Ereignissen vorausgegangen war eine zweimonatige Protestwelle in Kiew, durch die die oppositionellen Kräfte des Landes die prorussische Yanukovych-Regierung zum Rücktritt bewegen wollte. Nachdem sich die Situation zuspitzte und sich die Fronten beider Lager zusehends verhärteten, kam es am 19.02.2014 zu einer Schießerei zwischen den Regierungstreuen Sicherheitskräften und den Demonstranten, die zu einem wesentlichen Teil aus nationalistischen Kräften bestanden. Die Eskalation der Lage zwang den Präsidenten sich Ende Februar in den russisch-orthodoxen Osten des Landes abzusetzen, in dem er sich der Unterstützung der hiesigen Bevölkerung sicher sein konnte. In Kiew übernahm unterdessen eine Übergangsregierung die Amtsgeschäfte, an deren Spitze sich Befürworter einer Öffnung der Ukraine für das transatlantische Bündnis und einer Annäherung an die Europäische Union setzten. Die neue Regierung betonte dabei die Integrität des Landes und signalisierte damit ihre Entschlossenheit auch die Krim-Halbinsel in die westliche Hemisphäre eingliedern zu wollen. Diese für Moskau inakzeptable Neuorientierung, der damit einhergehende Verlust des einzigen Zugangs zu warmen Gewässern und die Zurückdrängung der russischen Einflusssphäre aus Europa, stellten den Kreml vor ein geostrategisches Dilemma. Der drohende Verlust des russischen Militärhafens im Schwarzen Meer und die daraus resultierende Bedeutungslosigkeit der Schwarzmeerflotte, führten zum Einmarsch paramilitärischer Einheiten, die am 28.02.2014 alle strategisch wichtigen Punkte der Halbinsel besetzten. Die nun entstandene komplexe Konstellation eines katholisch dominierten antirussischen Westteils und eines russisch-orthodox geprägten Ostteils des Landes sowie die militärisch besetzte Krim, steuerte das 50-Millionen Einwohner-Land in eine Krise von internationalem Ausmaß, die sich in diplomatischem Tauziehen, UN-Resolutionsvorschlägen und gegenseitigen Sanktionen äußert. Der am 16.03.2014 auf Moskaus Initiative abgehaltene Volksentscheid zur Angliederung der Krim, zielte darauf ab den russischen Ansprüchen Legitimität zu verleihen und dem Charakter einer völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel entgegenzuwirken. Kiew hingegen erkennt das mit über 90% bestätigte Referendum nicht an und beruft sich dabei gestützt von der EU und den Vereinigten Staaten sowohl auf die landeseigene Verfassung, als auch auf das Internationale Völkerrecht.
Diese Ereignisse verleiteten selbst renommierte Analysten und Teilnehmer der Münchener Sicherheitskonferenz dazu zweifelhafte Analogien zur Blockpolitik vergangener Tage zu ziehen. So behauptete der Politikwissenschaftler Prof. Christian Hacke: „Ich glaube […] die Schwäche des Westens [und] die Ratlosigkeit hat ihn erst stark gemacht. Das Schlüsselwort für Putins Politik für mich ist Revision. Das heißt nichts anderes, als das Putin nun die eurasische Zollunion als sein Ziel sieht – das ist nichts anderes als mögliche Wiedergewinnung der Einflusssphäre, was früher der sowjetische Einflussbereich war.“ Auch der bedeutende deutsche Think Tank „Internationale Politik“ unterstellt Putin ein „postimperiales Syndrom“ und vermutet in den jüngsten Ereignissen eine Droh- und Erpressungspolitik alter Schule, darauf ausgerichtet die russische Einflusssphäre zu vergrößern. In der Bildunterschrift des Artikels „Das gestern gestalten – Russlands imperiale Politik ist zum Scheitern verurteilt“ heißt es reißerisch: „[Putin] Möchte die Sowjetunion wiederherstellen, darf es aber nicht offen sagen“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ fühlte sich durch die Rede Vladimir Putins, in der er die Krim zum Bestandteil der russischen Föderation erklärte, gar an die blutige Niederschlagung des Prager Frühlings erinnert und bescherte seinen Lesern eine Zeitreise in die 60er Jahre, in der die rote Gefahr allgegenwärtig erschien. Die Medien suggerieren, Russland betreibe eine aggressive Expansionspolitik und befände sich auf dem Vormarsch und so erscheint Putin inzwischen als Reinkarnation General Schukov’s, dessen bolschewistische Armee unaufhaltsam nach Berlin vorstieß und die sowjetische Flagge auf dem Reichstag hisste.
Bei näherer Betrachtung erscheint „die Politik der Revision“ jedoch eher als Neuauflage der Campagne de Russie Napoléons und Hitlers Operation Barbarossa. Denn es sind die Frontlinien der EU und NATO die Russlands Einfluss seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 immer weiter in den asiatischen Raum zurückdrängen. Die jüngste Krise reiht sich dabei in eine Strategie des Westens ein, die 1998 mit dem Kosovokrieg begann, sich in der Aufnahme nahezu aller Osteuropäischen Staaten in die Europäische Union und in das transatlantische Militärbündnis fortsetzte und in dem Aufbau eines Raketenschutzschildes im ehemaligen Einflussgebiet Russlands mündete. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs stießen insbesondere die Vereinigten Staaten in das entstandene Machtvakuum und festigten ihren politischen und militärischen Einfluss im „neuen Europa“. Auf wirtschaftlicher Ebene war und ist es vor allem die BRD, welche Osteuropa fest im Griff hat und den ökonomischen Aktionsradius Russlands stark einschränkt. Moskaus Einflusssphäre, die einst von der Beringstraße bis über die Elbe reichte, ist innerhalb von zwei Dekaden soweit zurückgedrängt worden, dass von den 21 ehemaligen Ostblockstaaten nur noch Weißrussland und die Ukraine als russische Protektorate bestehen blieben. Bereits im Jahre 2006 unterstützten die EU und die Vereinigten Staaten die „orange Revolution“ in Kiew, mit dem Ziel den Schwarzmeerstaat aus der russischen Peripherie herauszubrechen. Nachdem Russland das Tauziehen 2008 zunächst für sich entscheiden konnte, scheint der jüngste europäisch-amerikanische Vorstoß zumindest einen strategisch wichtigen Teilerfolg verbuchen zu können. So hat die Westukraine mit Präsident Olexandr Turtschynow an ihrer Spitze, durch die mit der Europäischen Union im Eiltempo gebildeten Zollunion, sowie durch milliardenschwere Hilfspakete, bereits erste Schritte für die angestrebte Eingliederung in die EU vollzogen. Die von den Vereinigten Staaten zugesagte militärische Unterstützung im Falle einer Invasion Russlands, kann dabei ebenfalls als eine Art Vorstufe zum offiziellen Beitritt zur NATO interpretiert werden. Dies verdeutlicht die defensive Rolle Moskaus, das sich zunehmend im Würgegriff westlicher Wirtschafts- und Militärbündnisse befindet. George Friedmann, Gründer und Leiter der bekannten Denkfabrik Stratfor konstatiert folgerichtig: „Der Sturz der ukrainischen Regierung und ihre Ersetzung durch eine westlich orientierte kommt einer bedeutenden Niederlage der Russischen Föderation gleich. Nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union akzeptierte Russland die Tatsache, dass seine ehemaligen osteuropäischen Satellitenstaaten nun in die ökonomischen und politischen Systeme des Westens integriert werden. Moskau behauptet es hätte Garantien erhalten, dass die ehemaligen Sowjet-Staaten als neutrale Pufferzone unberührt bleiben. Washington und andere negieren dagegen Zusagen dieser Art gemacht zu haben. In jedem Fall wurde diese Diskussion durch den Beitritt der Baltischen Republiken zur NATO und der Europäischen Union hinfällig. Das Ergebnis bestand darin, dass die NATO, welche einst beinahe 1600 Kilometer von St. Petersburg entfernt war, nun auf 160 Kilometer herangerückt ist. Damit blieben Weißrussland und die Ukraine als letzte Bastionen zurück. […] Russland schützte sich historisch durch seine territoriale Tiefe. Es verlegte seine Grenzen weit in den Westen; diese Distanzen schreckten Feinde ab, oder wurden wie im Falle Hitlers oder Napoleons zu ihrem Verhängnis. Der Verlust der Ukraine als Puffer gegen den Westen kostet Russland seine territoriale Tiefe und liefert es an Europa und die Vereinigten Staaten aus.“ Entgegen der medialen Darstellung befindet sich Putin somit nicht auf einem aggressiven Expansionskurs, sondern versucht durch die Eingliederung der Krim-Halbinsel in die Russische Föderation einen letzten Teil seiner südlichen Einflusssphäre zu retten.
Eine Politik die Moskau teuer zu stehen kommen könnte, sind es doch die westlichen Staaten die am längeren Hebel sitzen und von den Wirtschaftssanktionen bei weitem nicht so hart getroffen sein würden, wie die Russische Föderation. Während sich die USA durch den Handelskrieg mit China als beinahe immun gegen Sanktionen erwiesen haben, droht Russland bereits bei minimalen ökonomischen Erschütterungen der Abstieg vom Schwellen- zum Entwicklungsland. Alleine die Androhung weicher Sanktionen ließen die russischen Aktienkurse fallen wie seit Jahrzehnten nicht mehr; die westlichen blieben dagegen völlig unberührt. Auch die vielzitierte Abhängigkeit Westeuropas vom russischen Gas ist angesichts der einseitigen Devisenabhängigkeit nur ein theoretisches Druckmittel Moskaus. Darüber hinaus ist die Energieversorgung und Sicherheit Westeuropas durch die Beherrschung der Atomtechnologie und alternativer Gaslieferanten wie Norwegen, Libyen und Algerien ausreichend gesichert. Ferner ist zu berücksichtigen, dass es aufgrund eben dieser wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht einmal in den heißesten Phasen des Kalten Krieges zu einem Lieferstopp fossiler Brennstoffe an Westeuropa kam. Das heutige Russland hat auch abseits seiner ökonomischen und realpolitischen Situation nicht mehr die ideologischen Voraussetzungen, um sich gegen die Staatengemeinschaft zu stellen. Im Kalifat.com-Artikel „Sarin als Friedenselixier“ vom 30.09.2013 hieß es diesbezüglich: „Das postkommunistische Russland hat sich systematisch in die internationale Staatengemeinschaft eingefügt und selbst die einst feindlichen westlich-kapitalistischen Werte für sich kennen- und lieben gelernt. Es wendet das demokratische Regierungssystem samt Gewaltenteilung an, akzeptiert die internationale Menschenrechtskonvention und hat durch seinen diesjährigen Beitritt zur Welthandelsorganisation den letzten Aspekt ehemaliger Protektionspolitik bezüglich seiner Rohstoffvorkommen aufgegeben. […] Nach diesen Ausführungen kann von einer Blockpolitik im klassischen Sinne keine Rede mehr sein. Russland hat sich faktisch in die Reihe kapitalistischer Staaten eingefügt und sich mit der globalen Dominanz der USA abgefunden.“ Auch Alex Callinicos, Professor für Europäische Studien am Londoner Kings College und führender Intellektueller der kommunistischen Bewegung hat diese Wahrheit zum Unmut linker Nostalgiker und Russlandliebhaber in seinem Artikel „Putin raises the stakes in imperialist Crimea crisis“ offen ausgesprochen. Russland und die Vereinigten Staaten befänden sich in einem „innerimperialistischen Konflikt“ und seien beide Teil ein und desselben „Systems ökonomischer und geopolitischer Konkurrenz kapitalistischer Staaten“, so die marxistische Erklärung Callinicos.
Für Merkel, Hollande und Obama ist Wladimir Putin eine politische Vogelscheuche mit der sich die Friedenstauben dieser Welt verjagen und energische Falken auf den Plan rufen lassen. Die immerzu zitierte Neuauflage des Kalten Krieges ist angesichts der erwähnten Tatsachen so wahrscheinlich wie Hitzefrei im sibirischen Winter. Russland, das derzeit weder einen revisionistischen noch aggressiven Expansionskurs fahren kann, bleibt nichts anderes übrig als eine Politik der Selbsterhaltung, durch die es die letzten Überbleibsel vergangener Tage konservieren will; ein Vorhaben dessen langfristige Erfolgschancen trotz der eindrucksvollen Einbalsamierung der Leiche Wladimir Iljitsch Lenins durchaus zweifelhaft erscheint.
Seit Moskaus Vorstoß auf der Krim sprachen die Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine von „einem dritten Weltkrieg“ sowie „der größten Krise seit 1990″ und reanimierten damit die europäischen Urängste vor den „barbarischen Russen“. Von den Titelseiten der Boulevardblätter blickte das Konterfei Putins auf die Prachtstraßen des friedlichen Europas und versetzte die flanierende Bevölkerung in Angst und Schrecken.
