Offiziell steht der Westen für demokratische Werte. Die öffentliche Meinung lässt nicht den Keim eines Zweifels daran aufkommen, dass sich westliche Staaten innen- wie außenpolitisch strikt an diesen Werten orientieren. Erst kürzlich bediente John Kerry, seines Zeichens amerikanischer Außenminister, dieses Hologramm, indem er die russische Militärintervention in der Ukraine kommentierte: „Man verhält sich im 21. Jahrhundert einfach nicht nach den Sitten des 19. Jahrhunderts, indem man aufgrund eines komplett erfundenen Vorwandes in ein anderes Land einfällt.“
So einfach dieses Prinzip auf den ersten Blick erscheinen mag, so inkonsequent sieht die politische Praxis bezüglich dieser Werte jedoch aus, ohne dass die Öffentlichkeit die so offensichtlichen Widersprüche erkennen will. Die massenhafte Tötung und Leichenschändung afghanischer Zivilisten durch amerikanische Soldaten, die zum „Schutz“ der afghanischen Bevölkerung und unter dieser vor allem der „leidgeplagten afghanischen Frau“ entsendet wurden; der blinde Fleck, von dem ganz Myanmar und die dort stattfindende ethnische Säuberung an den muslimischen Rohingya durch friedliebende buddhistische Mönche bedeckt werden, sodass die internationalen Medien der burmesischen Königin der Herzen, Aung San Suu Kyi, bis heute ihre Demenz in Bezug auf diese Menschenrechtsverletzungen gütig nachsehen; die tatenlose Teilnahme französischer Truppen am durch machetenschwingende, kannibalische Christen forcierten Exodus der muslimischen Minderheit aus der Zentralafrikanischen Republik…die Liste ist lang.
Diese praktischen, sich aus der politischen Theorie fortsetzenden Widersprüche, sind nicht die Ausnahme von der Regel, sondern Konsequenz des Systemfehlers. Denn die Demokratie ist nur eine Begleiterscheinung des Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, der Triebfeder westlicher Politik, die den Profit in den Mittelpunkt nicht nur des politischen Handelns rückt. Wer glaubt, der Westen habe überhaupt ein echtes Interesse daran, den Samen der Demokratie als geheiligte Regierungsform in seinen von Marionetten geführten Neo-Kolonien auszusäen, der hat weit gefehlt. Denn das würde die kolonialen Raubzüge durch selbstbestimmte Staaten eindämmen. Schlimmer als „echte Demokratien“ gilt dem Westen nur noch der Islam als alternative Staatsform, der jegliches Überbleibsel des Kolonialismus, sei es intellektueller oder politischer Art, an der Wurzel ausreißen und dadurch den westlichen Einfluss in den ressourcenreichen und strategisch wichtigen Regionen der Welt schlagartig beenden würde.
Die so befeuerte Komplizenschaft von Politik und Medien hat dazu geführt, dass selbst der klassische Diktator zu einer vertretbaren Option werden konnte, sofern er nur die Altnative zu den „Islamisten“ darstellt. So blieb der öffentliche Aufschrei im demokratischen Westen aus, als die falschen „Freunde Syriens“ die Mitbeteiligung des syrischen Diktators Bashar al-Assad an einer Übergangsregierung für alternativlos erklärten. Die USA machten sich nicht einmal die Mühe, Assad ein demokratisches Kostüm überzuziehen. Dies wäre angesichts seiner öffentlich gewordenen Gräueltaten ohnehin nicht möglich gewesen. Solange er ihren politischen Einfluss in der Region garantiert, darf er Fassbomben auf seine Bevölkerung und auf die Prinzipien von Demokratie und Freiheit werfen.
Dass der sich zwar allzu lautstark seines Islam rühmende und medienwirksam jeden Affront gegen die USA suchende Iran sich von Anfang an auf Assads Seite schlug und ihn aktiv in seinen Kriegsverbrechen gegen das syrische Volk unterstützte, bekräftigt den Schluss, dass schon seit Jahren ein Einvernehmen zwischen den USA und dem Iran besteht. Offiziell wird das Bild eines radikalen, Vernichtungsfantasien gegen Israel hegenden Iran gezeichnet, um die Grenze zwischen dem demokratischen Guten und dem islamischen Bösen nicht zu verwischen. Bereits 2009 bewiesen die USA nach den iranischen Präsidentschaftswahlen, aus denen Mahmud Ahmadinedschad als Sieger hervorging, dass sie gar kein Interesse an einem Führungswechsel im Iran hatten, obwohl Ahmadinedschad immer als radikaler „Islamist“ galt, der offiziell in Feindschaft zu den USA stand. Die Wahlen wurden von heftigen Protesten und Demonstrationen begleitet, in denen die iranische Bevölkerung Demokratie und Freiheit forderte. Dennoch unternahmen die USA nichts, um Ahmadinedschads Herausforderer Mir-Hussein Mussawi zu unterstützen. Vielmehr kommentierte Barack Obama den Wahlausgang seinerzeit damit, dass die Unterschiede zwischen Ahmadinedschad und Mussawi ohnehin nicht so groß seien, wie vielfach angenommen. Zwischen den Zeilen offenbarte Obama so, dass die USA kein Interesse an einem Machtwechsel im Iran hatten, weil der Iran unter Ahmadinedschad inoffiziell mit ihnen kooperierte.
Paradox ist auch die Haltung des Westens zur politischen Situation in Ägypten, hatte man doch den demokratisch gewählten Muhammad Mursi durch einen Militärputsch, wie er im Buche steht, gestürzt und ins Gefängnis geworfen. Seine Anhänger sind der Verfolgung, Folter und Ermordung ausgesetzt. Ägypten ist damit zur klassischen Militärdiktatur geworden, ohne dass der Westen diese politische Entwicklung zum Anlass von Kritik oder der Drohung mit Intervention zugunsten des inhaftierten Mursi und seiner Anhänger genommen hätte. Anstelle des Protestes kam von westlicher Seite die Begründung, dass die islamische Welt noch nicht für die Demokratie reif sei. So schüren die Medien seither gekonnt die Angst vor den „Islamisten“, die in Ägypten die unsichere politische Lage ausgenutzt und Armee und Polizei angegriffen hätten.
Der Grund für die Haltung des demokratischen Westens zur Militärdiktatur in Ägypten liegt auf der Hand: Diese braucht keine Rücksicht auf demokratische Werte zu nehmen und kann mit aller Härte gegen die Muslime vorgehen, um den sich im Vormarsch befindenden Islam zurückzudrängen. Mursi wäre dazu nicht geeignet gewesen und so musste er neben seinem undemokratischen Abgang eben auch Platz für die Militärdiktatur machen. Daher verwundert es nicht, dass Armeechef Abdel Fattah as-Sisi, der im neuen, alten Ägypten die Zügel in Händen hält, nicht nur gute Verbindungen zur Führung der US-Armee, sondern auch zum Pentagon unterhält.
Wie unreflektiert die Medien das politische Geschehen wiedergeben und die Öffentlichkeit die Berichterstattung aufnimmt, zeigt sich auch am Beispiel Saudi-Arabiens. Kürzlich wurde von der milliardenschweren Unterstützung Saudi-Arabiens an Ägypten berichtet. Warum sollte Saudi-Arabien, das offiziell die Shari’a umsetzt und vom Westen immer wieder beschuldigt wird, Al-Qaida, Salafisten und „Islamisten“ finanziell zu unterstützen, Ägypten mehrere Milliarden Dollar zukommen lassen? War dem altersschwachen König etwa entgangen, dass das ägyptische Militär den Islamisten Mursi gestürzt, eine Hetzjagd gegen Muslime betrieben und sich zur Trennung von Politik und Religion bekannt hatte? Die saudische Finanzhilfe macht nur Sinn, wenn sich Saudi-Arabien entgegen des propagierten Bildes in die Schlange jener Länder in der islamischen Welt einreiht, die als westliches Bollwerk gegen den Islam dienen.
Diese und zahlreiche andere Beispiele belegen zweierlei: Zum einen ist den kapitalistischen Staaten des Westens hinter ihrem demokratischen Vorhang jedes auch noch so undemokratische Mittel recht, um ihre Interessen in der Welt durchzusetzen. Zum anderen wird deutlich, dass die „islamistische“ Welt eine Erfindung des Westens ist, um – in Abgrenzung zum alles Übel dieser Welt verursachenden Islam – die heilsbringende Demokratie zu karikieren. Der Westen pfeift auf Demokratie und Freiheit, wenn es darum geht, wirtschaftlichen und politischen Einfluss in der Welt zu gewinnen, diesen aufrechtzuerhalten und auszuweiten. Für seine kapitalistischen Motive verkauft man seine demokratische Seele gern.
Anhand einer Vielzahl politischer Ereignisse der letzten Jahre lässt sich festmachen, wie die breite Öffentlichkeit im Westen das politische Geschehen in der Welt unreflektiert über die Medien aufnimmt. Nicht nur der intellektuelle Durchschnitt, selbst was man als „intellektuelle Elite“ bezeichnen darf – westliche Journalisten inbegriffen – hat kein Interesse an politischen Hintergründen und der politischen Wahrheit. Vielmehr wird sich mit sich ewig wiederholenden Erklärungsmustern zufrieden gegeben, vornehmlich von den USA vorgefertigt und vom immer gleichen globalen Bösewicht – dem Islam – beherrscht.
