Ausland Weniger ist mehr!

Da das Schweizer Demokratiemodell genauso löchrig ist wie der eidgenössische Käse und eine europaweite Dunstglocke erzeugt, die ganz und gar nach dem Geschmack der neuen Rechten zu sein scheint, sah sich Richard Herzinger dazu genötigt, die Deutungshoheit über die plebiszitäre Demokratie von Bern nach Berlin zu verlegen.

In seinem Artikel „Das Volk weiß es doch auch nicht besser!“, welcher am 16.02.2014 in der „Welt“ erschien, empört sich der Publizist, dass „nun nationalpopulistische Parteien in Europa das helvetische Beispiel zum Fanal für den ganzen Kontinent erklären und das plebiszitäre Prinzip zum letzten Rettungsanker der Demokratie gegen eine vermeintlich ins „Totalitäre“ abgleitende EU stilisieren“. Dies obwohl auch in der direkten Demokratie verfassungsrechtlich gedeckt eine Minderheit der Mehrheit Entscheidungen diktiert, so zumindest die Interpretation Herzingers zum Schweizer Volksentscheid „Gegen Masseneinwanderung“. Angesichts einer Wahlbeteiligung von 56% aller Stimmberechtigten und einer hauchdünnen Entscheidung zugunsten der Initiative entstehe eine Situation in der gerade mal ein Viertel eine in Stein gemeißelte Verfassungsänderung durchsetzen könne. Auch biete besagtes Modell allenfalls unter Beachtung des Konkordanzprinzips, welches in der Allparteienregierung zum Ausdruck komme, Schutz vor parteilichem Missbrauch von Volksabstimmungen. Schert jedoch eine Partei wie derzeit die SVP aus der Konkordanz aus, komme es zu heftiger gesellschaftlicher Polarisierung. Die aus solchen Zuständen entstehenden Problemstellungen müssten anschließend unter großem Aufwand von der Regierung wieder „in die Komplexität von Realpolitik“ überführt werden, schließlich könnten Volksabstimmungen, die aus „dem einfachen Ja-nein-Schema“ bestehen, „das eigentliche Geschäft der Politik nicht ersetzen“. Zu suggerieren Volksabstimmungen böten die Lösung vielschichtiger Probleme, grenze schlichtweg an Demagogie. „Dem Plebiszit haftet dabei der Nimbus an, hier spreche der Souverän mit unverstellter Stimme ein endgültiges Machtwort, an dem nicht mehr zu rütteln sei“, so Herzinger. Und genau hier läge ein zentrales Problem im Demokratieverständnis aller Eid- und rechten Gesinnungsgenossen, habe der „große Philosoph“ Karl Popper, doch gerade in einer möglichen Falsifizierbarkeit den „Wesenskern der demokratischen Staatsform ausgemacht“. In anderen Worten seien laut Herzinger nur jene Entscheidungen demokratisch, die zu einem späteren Zeitpunkt wieder annulliert werden könnten. Der Artikel Herzingers gipfelt in der These, dass „es einen einheitlichen, originär feststellbaren „Volkswillen“ nicht gibt – und […] sich in ihm schon gar keine reinere moralische Substanz verbirgt, die einer verderbten Selbstsucht „der Eliten“ entgegengehalten werden könnte“.
Die von dem „Welt“-Autor hier komprimiert und konkret dargestellte Argumentation ist Teil einer breiten Debatte, die inzwischen europaweit öffentlich ausgetragen wird. Das konträre Demokratieverständnis offenbart das unüberwindbare Spannungsverhältnis zwischen nationalen und supranationalen Interessen und macht das EU-Parlament in Straßburg zu einem verwunschenen Ort, der regelmäßig von den Geistern Verduns heimgesucht zu werden scheint. Aus den nationalen Schützengräben im Plenarsaal nehmen die Vertreter der Mitgliedsstaaten neben den gewohnten Angriffspunkten in den letzten Jahren vermehrt das vermeintlich mangelhafte Souverenitätsverständnis der europäischen Partner ins Visier. Nachdem bereits Griechenland im Jahre 2011 die Volksabstimmung über das Rettungspaket verwehrt wurde, trifft es nun das Juwel Europas. Die bis dato vielgepriesene Insel der Stabilität und Prosperität, von der die Bundesregierung selbst gestohlene Datensätze ohne schlechtes Gewissen erwarb, ist plötzlich der Virenherd eines destruktiven Demokratiemodells, welches den gesamten Kontinent zu infizieren droht. Geleitet von der geschichtlichen Erfahrung, dass in der Weimarer Republik die „extremistischen Kräfte“ von der Unreflektiertheit und Irrationalität des Volkswillen profitiert hätten, müsse dem Schweizer Souverän bereits in der Pre-Implementierungsphase der Riegel vorgeschoben werden. Volksentscheide würden sich nicht aus einem tatsächlich politischen Bewusstsein entwickeln, sondern seien das synthetisch erzeugte Ergebnis demagogischer Kräfte, so die Kritiker. Besonders gefährlich für die europäischen Demokratien sei die Übersetzung der Entscheide in realpolitische Programme, die von der ursprünglichen Willensbekundung notwendigerweise stark abweichen und den vermeintlichen Souverän erkennbar aushebeln. Getrieben von der Sorge einer Entlarvung der Lüge der Volkssouveränität, beschwören Herzinger und Co. die Schweizer Obrigkeit, dem gefährlichen Spiel mit der plebiszitären Kulisse ein Ende zu setzen. Angesichts der weit zurückgehenden Tradition eidgenössischer Demokratie würde eine Negativentwicklung eine Schockwelle in Gesamteuropa auslösen.
Die Bundesrepublik hingegen besitzt eine raffinierte Kulisse, die durch das Modell der indirekten Demokratie politische Entscheidungsprozesse abstrakt gestaltet und den Volkswillen nicht gegen Regierungsbeschlüsse aufwiegt. Nichtvorhandene Volksentscheide erschweren die Wahrnehmung des Einzelnen, sich in konkreten Fragestellungen auf eine mehrheitsfähige und fundierte Opposition zu berufen. Auf diese Weise ist der Bürger nicht in der Lage Entscheidungen der Regierung mit dem Volkswillen ins Verhältnis zu setzen und die diesbezügliche Diskrepanz zu erkennen. In der aktuellen Auseinandersetzungen geht es also nicht darum, welches Demokratiemodell der vielgepriesenen Idee der Volkssouveränität gerechter wird. Viel mehr belegen die unterschiedlichen Standpunkte die eigentliche Substanz der Debatte, die in der Frage besteht, welches Luftschloss die Volksseele am ehesten zu blenden vermag. Vor diesem Hintergrund erscheint die aggressive und weltweite Diktatur der Demokratie seitens des Westens als schlechter Scherz, sind sich doch nicht einmal die Griechen als Urheber der Demokratie, die Schweizer als selbstbewusste Vertreter eidgenössischer Selbstbestimmung und die Deutschen als geläuterte Diktaturgalanen einig darüber wie viel Volkswillen ein Staat verträgt. Im selben Atemzug maßen sich westlicher Denker paradoxerweise immer wieder an, genaue Kenntnis darüber zu besitzen, wie viel Demokratie den islamischen Völkern des Nahen und Mittleren Ostens zuzumuten sei. Dies obwohl Herzinger und seinesgleichen in Mehrheiten keinerlei moralische Instanz sehen und diese gar unverhohlen mit den Interessen kleiner aber entscheidender „Eliten“ gleichsetzen.
Dass es der Westen mit der Demokratie ohnehin nicht so ernst zu meinen scheint, wird jedoch nicht nur anhand der aktuellen Diskussion deutlich. War und ist es doch die lobgesungene Regierungsform des Volkssouverän, welche in Krisenzeiten zu aller erst abgeschafft wird. So erschütterte beispielsweise das schwere Erdbeben in Kalifornien im Jahre 1993 nicht allein die Grundpfeiler zahlloser Gebäude, sondern ebenso die demokratischen Strukturen des US-Bundesstaates. So wurden nur wenige Stunden nach den seismischen Aktivitäten der Ausnamezustand verhängt und den Marines das Kommando übergeben, welche Plünderer ohne Vorwarnung standesrechtlich erschossen. Auch im aufgeklärten Europa ist der Ausnamezustand im Krisen- und Kriegsfall verfassungsmäßig verankert. Das heutige Äquivalent zu des Führers Ermächtigungsgesetz ist im Deutschen Grundgesetz zu finden, welches in Fällen innerer oder äußerer Bedrohungen auch den inländischen Einsatz der Bundeswehr, die Übernahme der legislativen Funktionen von Bundestag und Bundesrat durch den „Gemeinsamen Ausschuss“, sowie die Einschränkung einiger Grundrechte legitimiert. Frei nach dem Motto „weniger ist mehr“ gilt in der aufgeklärten westlichen Welt nach wie vor der Grundsatz, die von Adolf Hitler als „vollkommen wahnsinnige Verkehrung jeder menschlichen Organisation“ bezeichnete Demokratie im Ernstfall schleunigst über Bord zu werfen.