Kommentar Mursi und die Illusion von Macht

Zahlreiche islamische „Gelehrte“ und Bewegungen distanzierten sich zunächst nicht nur von der Revolution, sondern stigmatisierten die protestierenden Massen als Khawarij oder Aufständische und forderten sie gar auf, wieder nach Hause zurückzukehren.

Ägypten, 2013 – so sehr es die Muslime erfreute, dass sich das Volk gegen Mubarak erhob, umso enttäuschender war es zu vernehmen, welche Reaktionen darauf folgten: Zahlreiche islamische „Gelehrte“ und Bewegungen distanzierten sich zunächst nicht nur von der Revolution, sondern stigmatisierten die protestierenden Massen als Khawarij oder Aufständische und forderten sie gar auf, wieder nach Hause zurückzukehren. Erst als die islamischen Bewegungen die Möglichkeit sahen, Mubarak tatsächlich zu stürzen, schlossen sie sich den Menschen auf dem Tahrir-Platz an und beteiligten sich so an dem Volksaufstand, welcher den Sturz Mubaraks nach sich ziehen sollte. Tatsächlich ist der verhasste Tyrann jedoch nicht freiwillig zurückgetreten, viel mehr wurde er vom Militärrat und dem Rest des Machtapparates „zurückgetreten“, schließlich galt es doch das zu retten, was noch zu retten war. Auch wenn das aufgebrachte Volk dies nicht erkannte, hätten zumindest die sogenannten islamischen Bewegungen und Denker wachsam sein müssen. Stattdessen waren sie es, die versuchten, die Menschen zu besänftigten und sie zur Partizipation am demokratischen System zu bewegen, ja dies sogar zur islamischen Pflicht verklärten.
Schließlich erlangte die Muslimbrüderschaft am 30. Juni 2012 in Ägypten die vermeintliche Macht im Rahmen der Präsidentschaft Mohammed Mursis. Trotz dessen mussten die Muslime vergebens auf eine fundamentale Veränderung warten, denn die besagten Bewegungen haben leider – abseits islamrechtlicher Wissenslücken – starke Mängel in ihrem Wissen und Verständnis von der Realität politischer Systeme bewiesen. Denn statt die Revolution zu Ende zu führen und die Massen zu einer vollkommenen Beseitigung des kapitalistischen Systems hinzuführen, hielten sie den Zug auf halber Strecke an und stellten die Weichen Richtung demokratische Reform. Hätten sie aus der Geschichte gelernt oder die Methode des Islam zur Veränderung von Systemen betrachtet, wäre ihnen dies nicht passiert. Es ist ein Fakt, dass sich ein politisches System nicht endogen-methodisch strukturell verändern lässt. Mit anderen Worten: Es ist unmöglich, mittels kapitalistisch-demokratischer Methoden das System des Kapitalismus zu verändern. Statt dem Ruf des Volkes nach Veränderung Gehör zu schenken und es in Richtung Übernahme aller staatlichen Institutionen und der Gründung des Kalifats zu führen, waren es jene, vermeintlich islamischen Kräfte, welche die Massen dazu aufriefen, den Tahrir-Platz zu räumen und den vom Militärrat vorgezeichneten Weg der Nicht-Veränderung einzuschlagen. So hieß es am 20. November 2011 selbst nach offiziellen Aussagen der Al-Nur Partei, dass sie „militärisches Eingreifen gegen die eigene Bevölkerung bedingungslos unterstützt“ und jene kritisiert, die „das Prestige des Militarismus attackieren.“
Dabei handelt es sich bei jenem Militärrat um die Hauptsäule des vorigen Regimes. Diese Tatsache, die nicht einmal dem oberflächlichsten Analysten verborgen bleibt, wurde von der Muslimbrüderschaft und der Al-Nur Partei in Ägypten anscheinend ignoriert oder verkannt. So lobten sie den Militärrat in den höchsten Tönen dafür, dass er sich angeblich auf die Seite der Revolutionäre gestellt habe. Ziel des Militärrats war es aber keineswegs, den Wünschen der Muslime Ägyptens zu entsprechen. Stattdessen wollten sie dem Aufbegehren der Massen den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie sich als angebliche Wächter der Revolution proklamierten und vorgaben, den (islamischen) Vorstellungen des Volkes folgen zu wollen. In dieser Situation hätten diese Bewegungen die Revolution anführen und dem Volk die Augen öffnen müssen; sie hätten die Pflicht gehabt, dem korrupten Militärrat zu demaskieren, um der Öffentlichkeit sein wahres Wesen vor Augen zu führen. Stattdessen ließen sie es zu, dass sich der Militärrat mit falschen Federn schmückte und dadurch vom Volk nicht als das erkannt wurde, was er tatsächlich ist, nämlich ein Handlanger Amerikas und ein Garant für die amerikanische Einflussnahme in Ägypten.
Dies stellte bereits den ersten politischen Selbstmord dar, gefolgt von weiteren fatalen Fehlern, welche der wahrhaft islamischen Veränderung im Wege stehen sollten. So ließen sich die besagten Bewegungen auf das vom Militärrat eingeführte Gesetz ein, welches Proteste verbot. Damit wurde der Militärrat bemächtigt, jeden Protest niederzuschlagen, unter dem Vorwand, dadurch die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen und der Wirtschaft zu gewährleisten. Bereits vier Stunden nach Einführung des Gesetzes kam es zur Räumung einer Protestkundgebung vor der Universität Kairo. Schließlich verkündete der Militärrat, dass zwischen dem 28. November 2011 und dem 10. Januar 2012 demokratische Parlamentswahlen in drei Phasen stattfinden sollten, die angeblich einen „sauberen“ Übergang der Macht ermöglichen würden. Doch zu denken, dass ein sauberer Übergang der Macht und somit die Beseitigung des amerikanischen Einflusses auf Grundlage dieses Weges möglich sei, ist, milde ausgedrückt, sehr blauäugig – alleine schon weil der Militärrat finanziell vom vorherrschenden System profitiert und die USA zu viel in die Führungsriege des Militärs investiert haben, als dass sie ihn so einfach aufgeben würden. Auch nachdem der Militärrat die Parteiengründung auf konfessioneller Basis verbot, da es ja die gegenwärtige Verfassung nicht gestatte, gab es keinen Aufschrei seitens jener Bewegungen und so bemerkten sie nicht, in welch einem Strudel amerikanischer Ränkeschmiede sie sich befanden. Stattdessen versuchten sie sich gleich einem Chamäleon dieser neuen Gegebenheit anzupassen und weiter auf demokratischem Wege ihre Ziele zu verfolgen. Plötzlich war aus dem sogenannten islamischen Lager der Ruf nach einem Zivilstaat zu vernehmen, ohne zu berücksichtigen, dass der Islam die einzige Kraft ist, welche sie besitzen. So musste es dazu kommen, dass sich nun laizistische Persönlichkeiten, wie El-Baradei und Amr Moussa, auf Augenhöhe mit den vermeintlich islamischen Bewegungen befanden, da sie ja alle zum Zivilstaat und zur Demokratie aufriefen. Vielmehr hätten sie auf der Liebe des Volkes für den Islam aufbauen sollen, indem sie zur Rechtsprechung des Qur’an aufrufen und die Existenz aller Institutionen, die dem Islam widersprechen, kompromisslos verurteilen sollen. Was hätte ein El-Baradei oder Amr Moussa dem noch entgegen setzen können? In solch einer wahrhaft revolutionären Atmosphäre wäre es unmöglich für diese Überreste des vorigen Systems gewesen, sich Gehör zu verschaffen, oder gar auf Akzeptanz seitens der Muslime zu stoßen.
Selbst ohne auf den islamrechtlich korrekten Standpunkt einzugehen – diese Thematik ist aus jenem Blickwinkel völlig eindeutig –, ist erkennbar, dass der demokratische Weg in solchen Verhältnissen nie zur Erlangung der vollen Macht führen kann. Die Muslimbrüderschaft und ihre ägyptischen Gesinnungsgenossen hätten sich lediglich einige Kilometer westwärts wenden müssen, um am schmerzlichen Beispiel der FIS in Algerien zu erkennen, welch hoffnungslosen Weg sie eingeschlagen haben. Hätten sie den Islam wirklich als Wegweiser zur Erlangung der Macht genommen, so hätten sie zudem erkannt, dass der Prophet (s.a.s.) nur die völlige, absolute Macht ohne irgendwelche Zugeständnisse akzeptierte. Als ihm beispielsweise der Stamm Banu Shayban die Macht anbot, allerdings mit der Einschränkung, ihn (s.) nicht vor den Persern zu beschützen und nicht die Verträge mit ihnen zu brechen, lehnte er ohne zu zögern diese Form der eingeschränkten Macht mit den folgenden Worten ab: „Diesem Din wird nur zum Sieg verhelfen, wer ihn von allen Seiten beschützt!“ (Biographie von Ibn Hisham)
Anstatt diesem klaren Vorbild zu folgen, haben sich die Bewegungen auf eine verschachtelte und undurchsichtige Methode eingelassen, durch deren Befolgung das Chaos im Lande vorprogrammiert und selbst die realen Fronten beim Tauziehen um die Macht nur schwer erkennbar sind. Wenn also die Unterstützer Mursis argumentieren, dass er nicht in der Lage sei, den Islam in seiner Gänze einzuführen, da er nicht die volle Macht besäße, dann muss ihnen die Frage gestellt werden, was ihn überhaupt zu solch einer Form der eingeschränkten Machtergreifung getrieben und somit vom islamischen Weg der Machtergreifung abgehalten hat. Argumentieren sie jedoch, dass Mursi es über diesen unislamischen Weg geschafft habe, die Macht zu erlangen, so ist Mursi ganz sicher voll und ganz für sein Handeln zur Rechenschaft zu ziehen. Es kann ihnen zu Recht entgegnet werden, dass er die volle Verantwortung für die Bekämpfung der Muslime im Sinai, die Beibehaltung der israelisch-ägyptischen Beziehungen und die Nichtanwendung der islamischen Schari’a zu tragen hat. In beiden Fällen haben die Muslimbrüderschaft und die Al-Nur Partei Ägyptens einen unislamischen und hoffnungslosen Weg eingeschlagen. Und so appellieren wir an sie, den islamischen Ratschlag ihrer Brüder ernst zu nehmen und diejenigen zu unterstützen, die an der einzig richtigen islamischen Methode zur Machtergreifung festhalten.
„Ich überbringe euch die Botschaften meines Herrn und ich bin euch ein aufrichtiger und getreuer Ratgeber.“ (Sura 7, Aya 68)
Anmerkung: Dieser Artikel wurde bereits im Februar 2013 verfasst, d.h. einige Monate vor dem Sturz Mursis durch das ägyptische Militär. Dies zeigt deutlich, dass die korrekten islamischen Konzepte den Muslim dazu befähigen, die Welt mit einer politischen Weitsicht zu analysieren und oftmals sogar die Umstürze und Veränderungen vor ihrem Eintreten zu erahnen. Ohne diese Fähigkeit die Umma führen zu wollen ist äußerst verantwortungslos und stürzt die Umma von einer Krise in die nächste.