Afghanistan, Irak, Palästina, Tschetschenien – die Liste der Länder, in denen das Blut der Muslime täglich fließt, ist länger, als diese vier Länder zum Ausdruck bringen können.
Denn die Muslime leiden nicht nur in jenen Ländern, in denen Nichtmuslime das Land okkupiert haben, sondern auch dort, wo diese ihre Vasallen eingesetzt haben, um über ihre Interessen zu wachen und die Muslime durch Einschüchterung, Folter, Gefängnis und Tod in Schach zu halten. Die gesamte islamische Welt ist von diesem Problem betroffen und befindet sich in einer gefährlichen Schieflage.
Sollte keine Korrektur erfolgen, wird sie kippen und die gesamte Umma unter sich begraben. Natürlich gibt es Länder, in denen die Not akuter ist als anderswo und Leib und Leben der Muslime unmittelbar gefährdet sind, doch die „Gläubigen in ihrer Zuneigung, Barmherzigkeit und ihrem Mitleid zueinander gleichen einem Körper: Wenn ein Teil davon leidet, reagiert der ganze Körper mit Schlaflosigkeit und Fieber“ (Muslim). Somit können und dürfen auch die Muslime außerhalb der islamischen Welt die Augen nicht vor der Lage der Umma verschließen, weil sie Teil dieses Körpers sind.
Längst hat sich Unmut unter den Muslimen breit gemacht, etwa über die Präsenz der Amerikaner im Irak oder die Okkupation Palästinas. Sowohl der Irak als auch Palästina dominieren die Tagesnachrichten in der islamischen Welt. Die Umma hat die Verantwortlichen der politischen Missstände und der an den Muslimen begangenen Verbrechen auch schon ausfindig gemacht: die Regenten. Dass diese in den islamischen Ländern für das Leid der Muslime verantwortlich sind, steht außer Frage und ist inzwischen für die Umma eine feststehende Tatsache, die kaum ein Muslim anfechtet und die oft genug geäußert wird.
Auch sind vielen die politischen Zusammenhänge klar. Den Muslimen ist bewusst, dass die Ereignisse um den 11. September von der US-Administration systematisch instrumentalisiert werden, um daraus handfestes hegemonialpolitisches Kapital zu schlagen. So dienen sie immer wieder als Vorwand, um ressourcenreiche Teile der islamischen Welt wie Afghanistan und den Irak militärisch zu okkupieren und sich deren Reichtümer, wie Öl und Erdgas, anzueignen. Die Muslime wissen inzwischen, dass die islamischen Länder keine souveränen Staaten sind, sondern dem Einfluss der Westmächte unterliegen und die dortige Politik von diesen gelenkt und bestimmt wird.
Der Eifer der Muslime endet jedoch oftmals mit dem Erkennen des Problems und führt nicht zu weiteren Überlegungen und Handlungen, um das Problem zu beseitigen. Vielmehr stellt sich beispielsweise angesichts der vielen toten Muslime im Irak oder anderswo in der islamischen Welt bei dem Einzelnen ein Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit ein und das Bewusstsein, das Leid der Muslime nicht mindern und die Realität nicht ändern zu können. Das Resultat ist die Erkenntnis, dass die Realität zwar schlecht sei, man persönlich aber nichts dagegen ausrichten könne – eine selbstzerstörerische Auffassung, weil sie den Einzelnen in eine Starre versetzt, während sich die Realität um ihn herum immer weiter zuungunsten der Muslime verändert.
Das Ohnmachtsgefühl, nichts gegen den Status quo tun zu können, hindert die Muslime jedoch nicht daran zu glauben, dass ein Staat wie die USA eines Tages in seine Schranken verwiesen und die islamische Welt von dem Kolonialismus und der daraus resultierenden Unterdrückung und Ausbeutung der Muslime befreit werde. Das heißt, die Hoffnung auf Veränderung ist trotz fehlender Einzelinitiative vorhanden, jedoch schließt sich der Einzelne davon aus, diese Veränderung selbst bewirken zu können. Deshalb projizieren viele Muslime ihren Wunsch und ihre Hoffnung auf eine positive Veränderung der islamischen Welt auf die Gestalt Salahu-d-Dins (zu deutsch: Saladin).
Die Umma wartet darauf, dass ein neuer Salahu-d-Din geboren wird, um die islamische Welt zu befreien, ohne in Erwägung zu ziehen, dass das Potential der Veränderung eigentlich in ihr selbst steckt. Salahu-d-Din wird zum Erlöser hochstilisiert, so dass die Umma sozusagen nichts weiter tun müsse, als auf sein Erscheinen zu warten. Das Warten auf Salahu-d-Din führt dazu, dass der Muslim seine Verantwortung zu handeln aus der Hand legt.
Salahu-d-Din, oder Saladin, konnte im Jahr 1187 Jerusalem von den Kreuzfahrern befreien und es für die Muslime zurückgewinnen, nachdem die Kreuzfahrer es bereits im Jahr 1099 eingenommen hatten. Seitdem gilt Salahu-d-Din als Befreier der Muslime schlechthin, ohne dass ihm darin irgendeine andere Gestalt aus der islamischen Geschichte gleichkäme. Zwar gab es abgesehen vom Propheten (s) und seinen Gefährten viele bedeutende Gestalten in der islamischen Geschichte, die Großes geleistet haben, wie Tarik Ibn Ziad oder aber Muhammad Al-Fatih, aber niemand nimmt die Rolle des Befreiers ein. Diesen Platz belegt ausschließlich Salahu-d-Din, und deshalb wird der Ruf gerade nach ihm laut, wenn die Umma sich ihres Leids und ihrer Unterdrückung bewusst und ihre Situation unerträglich wird.
Hierbei vergessen die Muslime jedoch die historischen Fakten. Die Befreiung Jerusalems ist nicht ausschließlich auf die Tapferkeit, das strategische Können und die Körperkraft Salahu-d-Dins zurückzuführen. Hinter ihm stand eine islamische Armee sowie das Kalifat, in dessen Auftrag und Namen er Jerusalem befreite. Salahu-d-Din allein hätte gegen die Kreuzfahrer nichts ausrichten können, doch ihm stand das islamische Militär zur Verfügung, und nur deshalb gelang es ihm, den islamischen Boden zu befreien. Erst in diesem Kontext hat sich Salahu-d-Din als Feldherr besonders hervorgetan – denn nicht jeder Heerführer brachte seine Qualitäten mit. Man darf folglich nicht vergessen, dass er in seiner Funktion als Befehlshaber, der im Dienste des islamischen Staates stand, die Kreuzfahrer besiegte.
Somit herrschten ganz andere Rahmenbedingungen für die Umma als heute, denn es gab ein Kalifat und es gab eine islamische Armee, und Salahu-d-Din war darin eingebunden und agierte innerhalb dessen. Was also erwarten die Muslime von einem neuen Saladin? Soll er im Alleingang die Amerikaner aus dem Irak verjagen, die russische Armee in Tschetschenien schlagen, Palästina befreien, Guantanamo schließen? Oder soll er zunächst als Individuum ein Kalifat aus dem Boden stampfen und ein islamisches Heer aufstellen, das ihm dann zur Seite steht? Auch ein neuer Salahu-d-Din bedarf der tatkräftigen Unterstützung der Muslime. Wirft man einen Blick auf die Umma, so hat sie im Grunde bereits ihre Salahu-d-Dins und muss nicht auf die Geburt einer Erlöserfigur in der Zukunft warten. Ihr muss lediglich bewusst werden, dass selbst ein Muslim mit noch so hervorragenden Qualitäten als Individuum nichts ausrichten kann, wenn die Umma sich passiv verhält und ihm ihre Unterstützung verwehrt, denn:
﴿﴾
„Allah ändert den Zustand eines Volkes nicht, ehe sie selbst nicht ändern, was in ihnen ist“[13:11]