In diesem Jahr gedenkt die Bundesrepublik zum siebzigsten Mal der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Eine Zeitspanne, die der deutschen Gesellschaft in puncto Vergangenheitsbewältigung viel abverlangte. Denn keine Epoche der deutschen Geschichte erfuhr eine ähnlich große Aufmerksamkeit, noch nie wurden Geschehnisse so überhöht dokumentiert wie die der Zeit des Nationalsozialismus. Ganz besonders die Person des Führers gehört seit sieben Jahrzehnten nicht nur zum festen Bestandteil des abendlichen Fernsehprogramms, sondern zieht mit ihrer sagenumwobenen Aura vom Psychologen bis zum Esoteriker sämtliche wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Disziplinen in ihren Bann. Allerdings war die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auch immer wieder Gegenstand kontroverser Debatten. Insbesondere die Schuldfrage der Deutschen an den Verbrechen im Dritten Reich konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden. In einem sind sich die Zwangsdemokraten jedoch einig: Nie wieder dürfe sich die „deutsche Katastrophe„, die weite Teile des europäischen Kontinents in Flammen setzte, wiederholen. Beeindruckt von dieser Erkenntnis und animiert durch das Umerziehungsprogramm der Alliierten, erklärte die BRD kurz nach ihrer Gründung das Konzept der Vergangenheitsbewältigung sowohl zur Staatsräson als auch zur individuellen Pflicht aller Bürger. Grund genug eine Bilanz zu ziehen und die Früchte dieses geistigen Genesungsprozesses näher zu beleuchten.
Auch nach siebzig Jahren historischer Aufarbeitung und einer kritischen Reflexion über die Nazi-Verbrechen, bleibt die Geschichtsschreibung seinen Lesern nach wie vor die Antwort schuldig, weshalb sich ausgerechnet das „Volk der Denker und Dichter“ dazu hinreißen ließ, dem „Monster“ Adolf Hitler widerstandslos bis zum Untergang zu folgen. Ungeachtet der großen kulturellen Errungenschaften der deutschen Aufklärung, auf die mit Stolz verwiesen wird, war die Affinität zu rechtskonservativem Denken im deutschen Alltag stets die Regel. Besonders zu spüren bekam dies die Weimarer Republik. Trotz einer überdurchschnittlich großen Anzahl an politischen Parteien, entschied sich eine breite Masse der Deutschen dennoch für die NSDAP, die keinen Hehl daraus machte, nach ihrer Machtergreifung, die übrigen „dreißig Parteien aus Deutschland hinauszufegen„. Um nachzuvollziehen, wie es Hitler gelang, sich das deutsche „Kulturvolk“ mittels raffinierter Propaganda gefügig zu machen, lieferten Historiker und Soziologen in den vergangenen sieben Jahrzehnten zahlreiche Erklärungsansätze. Neben den sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Schwierigkeiten, mit denen die Weimarer Republik zu kämpfen hatte, wird zunehmend über mögliche geistige Dispositionen diskutiert, die innerhalb der deutschen Kultur verankert seien. Hierbei betonen Historiker immer wieder den deutschen Untertanengeist, der mit Hilfe seiner militaristischen Mentalität preußischer Prägung den notwendigen Nährboden schuf, auf dem die Nazis ihren Gesinnungsmarsch eröffnen konnten. Da die meisten Deutschen in der parlamentarischen Demokratie eine „schwere Ideologie“ sahen, bevorzugten sie ihrem politischen Naturell entsprechend eine autoritäre und diktatorische Herrschaftsform. Auf dieser Grundlage wurde die wenn auch strittige These des „deutschen Sonderwegs“ begründet, die sich in der Ablehnung bürgerlich-liberaler Werte und demokratischer Staatsstrukturen äußerte. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne und die Auflehnung gegenüber „westlichen Ideen“ sei exemplarisch für den anachronistischen Geist im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Allerdings übergehen derartige Deutungen, dass auch im deutschsprachigen Raum eine Geisteswende in der Tradition der europäischen Aufklärung stattfand, die fortan eine politische Kultur deutschen Typus herausbilden sollte und somit in der Bewertung der weiteren Ereignisse eine zentrale Rolle einnehmen muss. Diese Geisteswende, welche sich in der Philosophie des Deutschen Idealismus niederschlug, stellte das gedankliche Gerüst dar, auf dem sich nicht nur das preußische Königreich und die Weimarer Republik, sondern auch das Dritte Reichs ein gesellschaftliches und politisches System konstituierte. Insofern kommt die Nachkriegsdemokratie nicht umhin, die Frage nach einem Zusammenhang zwischen der deutschen Philosophie und der nationalsozialistischen Weltanschauung aufzuwerfen. Erstaunlicherweise wird hierzulande ein großer Bogen um dieses Thema geschlagen. Für gewöhnlich gleicht es einer blasphemischen Behauptung, philosophische Größen wie Kant oder Hegel mit der Nazi-Ideologie in Verbindung zu setzen, lehnten doch die „braunen Schreihälse“ die Ideale der Französischen Revolution als „undeutschen Geist“ kategorisch ab. Doch hierbei handelt es sich um ein wahres Gaunerstück deutscher Erinnerungskultur, schließlich wird die Epoche der Aufklärung dabei auf geistig-ideeller Ebene als monolithischer Block dargestellt. Die dennoch vorhandenen Unterschiede werden bei dieser Gelegenheit rasch aufgelöst und das Dritte Reich als ein Fremdkörper deutscher Geistesgeschichte präsentiert. Aufgrund dieser selektiven Wahrnehmung wird schließlich das Bild eines jungen Hitlers konstruiert, der bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr immun gegen jegliche geistig-kulturelle Einflüsse gewesen sein soll und sich sein Weltbild im stillen Kämmerlein zusammenbastelte. Angesichts seiner dokumentierten Lesegewohnheiten und der Auswahl seiner Literatur, kann von einer hermetisch abgeriegelten Glaskuppel im Herzen Europas als Ort geistigen Schaffens allerdings keine Rede sein. Vielmehr ließ er sich von der abendlichen Lektüre Fichtes, Nietzsches und Schopenhauers gedanklich so weit inspirieren, dass er sich als Schutzpatron der europäischen Kultur berufen sah, die es vor einem erstarkenden Bolschewismus zu schützen galt. Es stimmt zwar, dass weder die französischen noch die angelsächsischen Denker einen direkten Einfluss auf die nationalsozialistische Geistesbildung hatten, dennoch war der Bezugspunkt der Intellektuellen im Dritten Reich stets die Philosophie des Deutschen Idealismus. So bekundete der promovierte Philosoph und SS-Sturmbannführer Dr. Otto Dietrich in seiner bekannten Schrift„Ein Ruf zu den Waffen deutschen Geistes“ das Bekenntnis des Nationalsozialismus zur klassischen deutschen Philosophie Kants und Fichtes. Darin erkannte er besonders in Kants Sittengesetz die „klassische Formulierung nationalsozialistischer Ethik“ und erhob Fichte zugleich zum „Prediger und Propheten der Nation„. Philosophen wie Martin Heidegger, der neben seiner Liaison mit Hannah Arendt bis 1945 NSDAP-Mitglied war, schmückten ebenso die intellektuelle Landschaft des Dritten Reiches. Heideggers Kritik der abendländischen Philosophie und der Versuch ein neues Weltverständnis zu formulieren, machen ihn bis heute zu einer festen Geistesgröße unter den deutschen Philosophen. Doch an seiner rätselhaften Hinwendung zum Nationalsozialismus beißen sich die demokratischen Geister ihre Zähne aus. Die in den 1930er Jahren einsetzende geistige Kehrtwende Heideggers wird gerne als Charakterschwäche und Bedürfnis nach Karriere und Anerkennung abgetan.
Dieses immer wieder zu beobachtende Phänomen, den Befürwortern und Unterstützern der NS-Diktatur die abenteuerlichsten Motive für ihre Loyalität unterzujubeln, offenbart das gesamte Ausmaß einer undifferenzierten und kritiklosen Beurteilung der eigenen Geschichte. Statt sich mit der Mär von der vermeintlichen Verführung des deutschen Volkes durch Hitler zu begnügen, sollte das begnadetet „Kulturvolk“ vernünftigerweise Farbe bekennen und den offensichtlichen Zusammenhang zwischen der deutschen Philosophie und dem Dritten Reich nicht länger leugnen.
Möchte die Nachkriegsgeneration der vielzitierten Vergangenheitsbewältigung tatsächlich gerecht werden, bedarf es folglich mehr, als sich in den nahezu stündlich ausgestrahlten Dokumentationen von zweifelhaften Thesen über den psychisch labilen Zustand Hitlers und seiner fragwürdigen Mundhygiene berieseln zu lassen. Eine historische Aufarbeitung, die ihren Namen verdient, wäre nur dann produktiv, wenn der „Schrecken“ des Nationalsozialismus im Kontext der eigenen kulturphilosophischen Entwicklung und der deutschen Aufklärung untersucht würde. Spätestens wenn es dann in zwei Generationen heißt: Der Deutsche hat aus der Geschichte gelernt, dass der Deutsche aus der Geschichte nichts lernt, werden die Urenkel die entstellte Vergangenheitsbewältigung als Betrug begreifen und sich der tatsächlichen Schuldfrage stellen müssen. Doch bevor das deutsche Volk bereit wäre das Dritten Reich als eine zeitgemäße Interpretation der europäischen Aufklärung zu erkennen, würde es wohl eher dazu neigen durch einen strammen Griff zur Zyankali-Kapsel die Volksseele aus ihrem kulturhistorisch geschändeten Corpus zu befreien und der Volksgemeinschaft auf diese Weise einen ehrwürdigen Abgang in deutscher Tradition zu bescheren.
In diesem Jahr gedenkt die Bundesrepublik zum siebzigsten Mal der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Eine Zeitspanne, die der deutschen Gesellschaft in puncto Vergangenheitsbewältigung viel abverlangte. Denn keine Epoche der deutschen Geschichte erfuhr eine ähnlich große Aufmerksamkeit, noch nie wurden Geschehnisse so überhöht dokumentiert wie die der Zeit des Nationalsozialismus.
